Neue Wege

Der Tag war eisig und dichte Wolken am Firmament kündigten nach nur wenigen Stunden der Ruhe erneut Schneefall an.
So, wie sich die Bäume bereits unter der weißen Last bogen, war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch aufrecht standen.

Die junge Ust'Sargtlin ließ ihren Blick nur kurz über den winterlichen Waldrand schweifen, bevor sie ihr Schwert schwang und eine Sargtlin attackierte, auf deren Wange neuerdings eine weiße Spinne prankte.

"Bei den neun Höllen, Sargtlin!" Ihre Stimme war zornig und tadelnd.
"Schaut während der Parade nicht Eurer Klinge hinterher!"

Sie versetzte Taldra mit Maydorls stumpfer Klingenseite einen schmerzhaften Schlag in den Nacken.

"Noch einmal. Achtet auf Euren Stand. Xas, genau so..."

Talshalee stieß ein Schauben aus.
Ihre Kriegerin hatte in den letzten Wochen stark abgebaut, sowohl was ihre Aufmerksamkeit, als auch ihre Fähigkeiten mit dem Schwert anging. Das war der Grund gewesen, aus dem heraus sie an diesem Nachmittag beschlossen hatte, das Training selbst zu übernehmen.

"Auf die Umgebung achten", raunte sie kühl.

"Aufstehen, weitermachen."

Die nächsten Schläge parierte die Sargtlin anstandslos, bevor sie ihre Abwehr zu einer Welle durchaus akzeptabler Angriffstechniken wandelte.

Die Ust'Sargtlin hob eine dünne, weiße Braue, während sie den aufkommenden Zorn niederrang.
Offensichtlich hatte eine arachnomantische Tätowierung genügt, um alle Fortschritte, welche die Kriegerin in den letzten Jahren am Schwert gemacht hatte, binnen weniger Wochen zu ruinieren.

<< Unachtsamkeit. Ihr lasst Euch durch Euren Schmerz kontrollieren.>>

Talshalee bedeutete der Sargtlin, sie zu beobachten und vollführte dann den gleichen Angriff noch einmal.

<< Seht, ich schlug von der Seite. Ihr habt so pariert, zu weit ausgelegt und Euch damit eine Blöße gegeben.>>

Sie lächelte zynisch.

<< Ich werde Euch vermehrt zu Waldpatrouillen einteilen, damit Ihr Euch an die Umgebung gewöhnen könnt. Legt Euch dafür geeigneteres Schuhwerk zu, was ihr tragt, hat schon so manchen Sargtlin niedergestreckt.>>

Oder so manche Ust...
Zähneknirschend erinnerte sich die junge Ilythiiri daran, wie das glatte Leder ihrer Stiefel sie am Sturmberg heroisch hatte zu Boden gehen lassen, als sie sich auf Maya Xarann hatte stürzen wollen.
Nun, möglicher Weise hatten die Stiefeln einen schlimmeren Ausgang verhindert...

Die grünen Augen verengten sich, während sie auf die andere zutrat.

<< Ich weiß nicht, was genau an jenem Abend mit Euch passiert ist...>>, ein deutlich drohender Ton schwang in ihren Worten mit,
<< ... aber ich werde nicht dulden, dass Ihr weiter schwächelt.>>

Sie blickte über Tal'dras Schulter und erkannte Argol in einiger Entfernung.

Die Ust'Sargtlin quittierte ihre Bedrängnis mit einem sarkastischen Lächeln.
Wenn sie an ihrem Stolz gepackt wurde, erinnerte sich Tal'dra offensichtlich rasch ihrer Fähigkeiten, ein Phänomen,
welches bezeichnend für Vertreter des dunklen Volkes, bezeichnend für sie selbst war...

<< Bwael!>>, stieß sie aus und die andere konnte hören, dass nun auch der Atem ihrer Vorgesetzten schwerer ging.

Talshalee duckte sich unter einem Angriff hinweg, doch die Bewegung fiel zu ihrem Ärger weniger fließend aus, als sie es beabsichtgt hatte, da sie ihren linken Fuß noch immer schonte.

Sie konnte spüren, wie die Klinge der anderen sie um Haaresbreite verfehlte und funkelte ihre Sargtlin in gespieltem Zorn an.

<< Ihr legt es auf einen neuen Ust an, tlun usstan ditronw?>>

Ihr Blick wurde noch funkelnder.

<< Glaubt mir, Ihr wollt diesen Rang nicht.>>

Sie lachte ob der ironischen Antwort der anderen.
Ein ehrliches Lachen.

<< Ihr würdet die Verantwortung für Sargtlinen wie Euch nicht tragen wollen.>>

Talshalee parierte die Attacke und ließ die Parade dann in eine erneute Angriffswelle übergehen.
Ihre Schläge waren schnell und mit einer gemeinen Finte versehen, mit der sie Tal'dra aus dem Konzept brachte,
um ihr einen kraftvollen Tritt zu versetzen.

Sie beobachtete die andere, während diese wieder auf die Beine kam und sich den Schnee aus den Gewändern schüttelte.
Irgendetwas hatte sich verändert, das spürte die Ust'Sargtlin deutlich.
Tal'dra verhielt sich so folgsam wie immer, jedoch schienen sie sich seit der Vorkommnisse auf der verfluchten Waldpatrouille
auf eine besondere Art und Weise aufeinander eingestellt zu haben.
Talshalee war noch unschlüssig, ob sie diese Veränderung begrüßen sollte...

<< Welcher Art ist Eure Verantwortung, Sargtlin?>>

Eine ausweichende Antwort, sie hatte es nicht anders erwartet.

Die Ust'Sargtlin musterte ihre Kriegerin prüfend, während sie Maydorl in einem lockeren Griff hielt.
Taldra sah mitgenommen aus, erschöpft, abgekämpft, aber da war auch etwas anderes, seit die junge Sargtlin von ihrer Reise zurückgekehrt war. Etwas, was Talshalee nicht greifen konnte.
Es schien, als habe die Sargtlin einen Weg gefunden, den sie vorher nicht zu gehen gewagt hatte...

<< Wärmen wir uns auf, bevor dieser Winter schafft, was unsere Feinde versäumt haben.>>

Sie lächelte, kurz und zynisch.

Beiläufig, ohne ihn anzusehen, versetzte die junge Ust'Sargtlin einem der allzu provokant starrenden Sargtlinen einen Schlag in das Gesicht und gesellte sich dann zu Argol und Taldra an eines der Kohlebecken.

Der Frost setzte ihrem schlanken Körper mehr zu, als sie es sich hatte eingestehen wollen und nun, da die Hitze des Kampfes sie verließ, konnte sie nur mit größter Mühe das Zittern unterdrücken.

Sie nickte dem Rivvil betont gefasst zu, auch wenn sich bei seinem Anblick widersprüchliche Gefühle in ihr regten.
Niemals würde sie die Schmerzen und die Schmach vergessen, die er ihr auf der ersten gemeinsamen Oberflächenmission beigebracht hatte, damals, als sie noch eine Sargtlin gewesen war.
Vieles hatte sich seither geändert. Sie hatte gelernt, ihren Zorn auf andere Ziele zu richten.
Sie hatte gelernt, das Schmerz und Hass gute Lehrmeister sein konnten...

Talshalee nahm den Becher entgegen und kippte hinunter, was auch immer sich darin befand.
Sie bereute es, als sie schon sehr bald merkte, dass das Gebräu eigentlich zu heiß gewesen war.

Ihren Stolz ignorierend, der irgendwo am Rande ihres Geistes zu rebellieren begann und mit pelzig verbrühter Zunge reichte sie Argol den Becher zurück und befolgte dann seinen Rat.
Sie öffnete ihren Mantel und stellte sich so dicht vor die Kohlebecken, wie es gefahrlos möglich war, bevor sie dem Rivvil zuzwinkerte.

<< So kann man natürlich auch jemanden dazu bringen, sich zu entkleiden...>>

Sie musste mit aller Macht ein Lachen zurückhalten.
Wer hätte gedacht, dass sie zu einem solch flachen Scherz in der Lage war.
Anscheinend machte es sich langsam bemerkbar, dass sie derart viel Zeit mit Taldra verbrachte...