Vor dem Tempel

  • Bar´akan ging, einen halbdurchsichtigen schwarzen Schleier vor seinen Augen, vor dem Tempel der Elemente entlang. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten schien er nicht bestrebt zu sein, das Tageslicht schnell wieder zu verlassen und das schützende Dach eines Gebäudes zwischen sich und die Sonne zu bringen. Statt dessen betrachtete er interessiert einige Kräuter, die am Rande des Weges, auf dem er sich befand, wuchsen.

  • In Gedanken versunken kam Kal Su aus dem Tempel. Das Gespräch mit Mordenkainen hatte sie verunsichert und ihr wurde einmal mehr bewußt, wie wenig sie den Hüter der Elemente eigentlich kannte.
    Als sie die hochgewachsene schwarze Gestalt auf dem Weg bemerkte, erhellte sich ihr Gesicht.
    "Bar'akan, Ihr seid zurück!"
    Zwar wußte sie, daß er sich bereits seit ein paar Tagen wieder in Selfiran aufhielt, hatte ihn aber in dieser Zeit noch nicht zu Gesicht bekommen.
    Neugierig folgte sie seinem interessierten Blick zu Boden.
    "Oh, hier wächst ja Gundelrebe, interessant. Ich dachte, die gibt es hier nur unten am Fluß und bei den Holundersträuchern am Waldrand."
    Kal Su hockte sich hin und zupfte vorsichtig zwei kleine rundliche Blättchen von der Pflanze. Eines steckte sie sich selbst in den Mund, das andere hielt sie dem Drow hin.
    "Schmeckt ähnlich wie Salbei, nur bitterer. Wirkt gegen alle Arten von Entzündungen und bei Vergiftungen. Vielleicht sollte man einmal ein paar Pflanzen davon ausgraben und in den Kräutergarten umsetzen.", fügte sie mümmelnd hinzu.

  • Bar´akan blickte auf. "Ja, ich bin zurück. Gundelrebe also heißt es?" Er nahm das Grün entgegen und roch interessiert daran. Zu kauen begann er jedoch erst, nachdem Kal´Su dies getan hatte. Seinem Ton war nicht zu entnehmen, wie er den Geschmack des Krautes fand. "Interessant... Also ein der Heilkunde nützliches Kraut. Im Underdark würde man statt dessen einen bestimmten Pilz verwenden..." Nach einer kurzen Pause: "Wie ist es Euch ergangen, seit wir uns das letzte Mal sahen?"

  • "So leidlich. Die Erkältung war ja bei dem Wetter der letzten Wochen nicht anders zu erwarten gewesen, also eher nicht erwähnenswert. Aber seit dem Vorfall mit Ruglan schleichen Viktor und ich umeinander herum und warten, wer wem als erstes an die Kehle springt."
    Das Thema schien ihr unangenehm.
    "Aber erzählt doch, was ist in Yunalesc noch geschehen, nachdem wir abgereist sind? Ich hatte noch mitbekommen, daß Vorn seine Stimme wiedererlangt hat?"
    Gemächlich setzte sie sich in Richtung der neuen Akademie in Bewegung. Das Gespräch mit Mordenkainen hatte sie mit einem nagenden Gefühl des Zweifels zurückgelassen und sie wollte die Idee, die sich langsam in ihrem Geist formte mit jemandem besprechen, der nicht sofort die moralische Keule zücken würde.

  • "Viel länger bin ich ebenfalls nicht geblieben. Wenn man von einem >kurzen< Abstecher in die Bibliothek dort absieht..."
    Wer den Drow genauer kannte, konnte im letzten Satz eindeutig Spuren von Ironie hören. Nicht ganz eindeutig war, ob sich diese auf die Kürze des Abstechers, oder auf die Bibliothek bezog.
    "Und ja, Erkältung gehört zu den Übeln, gegen die Magie nichts und Alchimie nur sehr wenig ausrichten kann. Das Problem dürfte so alt sein wie beide Schulen des Wissens. Zu ergründen, warum es einfache, kleine Dinge gibt, gegen die auch mit großer Macht nichts auszurichten ist..."

  • Bar'akans Antwort brachte Kal Su zum Lachen und in ihren Augen erschien ein schelmischer Funke.
    "Ein kurzer Abstecher, soso. Kommt schon, gebt es zu, der einzige Weg, Euch aus einer Bibliothek herauszubekommen ist doch, wenn tagsüber durch jedes Fenster die pralle Sonne hereinscheint und nachts auf jedem Tisch zehn Kerzen brennen!", stichelte sie gutmütig.
    Insgeheim ahnte sie durchaus, daß es nicht nur Wissensdurst war, der die Bibliothek zu Bar'akans bevorzugtem Aufenthaltsort machte, sondern die Ruhe und Abgeschiedenheit.
    "Und außerdem, ich weiß ja, daß sich die Lebensspannen von Drow und Menschen deutlich unterscheiden, aber das, was Ihr als kurz bezeichnet, waren mehrere Wochen. Ist die Bibliothek der Seraphim so faszinierend?"

  • Kal Su nickte nur bei seinen Ausführungen.
    "Mir ist vor einiger Zeit ein Gedanke gekommen." fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort. "Und ich wüßte gern Eure Meinung dazu, da Mordenkainen etwas ... sagen wir ungehalten darauf reagiert hat."
    Eindringlich blickte sie ihm in die Augen.
    "Ich würde das allerdings lieber an einem Ort besprechen, wo das Risiko geringer ist, daß jemand zuhört."

  • "Ich hatte an mein Zimmer gedacht.", antwortete Kal Su. "Oder Eures, wenn Euch das lieber ist."
    Es war ihre Neugier gewesen, die ihr den letzten Satz in den Mund gelegt hatte. Sie hatte sein Zimmer noch nie gesehen und da alle Bewohner der Akademie die Möglichkeit hatten, ihre Räume nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten, war sie gespannt, wie wohl sein Zimmer aussehen mochte. Abgesehen von dunkel.

  • "Nein, die Dunkelheit schreckt mich nicht. Und ich glaube nicht, daß Ihr etwas in Eurem Zimmer habt, das ich fürchten müßte?"
    Sie wandte sich in Richtung des neuen Wohntraktes.
    "Dann laßt uns gehen, bis zum Abendessen ist ja noch genug Zeit."

  • "Ich denke nicht, dass sich etwas dort befinden sollte, wovor Ihr Euch sorgen müßtet."
    Bar´akan folgte Kal´Su. Im Wohngebäude, das die beiden wenig später erreichten, ging er kurz an ihr vorbei und öffnete eine der Türen. Hinter der Tür hing ein schwarzer Vorhang, der das Licht des Ganges schlicht zu schlucken schien. Bar´akan zog den Vorhang zur Seite und machte eine einladende Handbewegung. Hinter dem Vorhang war es dunkel. Wobei "dunkel" den Sachverhalt eigentlich nicht traf. Es war mehr das vollkommene Fehlen von Licht. Auch durch die offene Tür fiel das Licht aus dem Gang nur merkwürdig zögerlich in das Zimmer ein, fast als empfinde es Unwillen, die Türschwelle und den dahinter hängenden Vorhang zu queren.
    "Tretet ein. Zwei Schritt ins Zimmer steht ein Tisch mit zwei Stühlen..." Bar´akan hielt den Vorhang auf und wartete darauf, dass Kal´Su eintrat.

  • Kal Su stockte kurz beim Anblick der absoluten Schwärze hinter dem Vorhang. Es schien fast, als würden die Gesetze, denen Licht normalerweise gehorchte, jenseits des schweren Stoffes einfach nicht mehr gelten. Selbst mit vernagelten Fenstern und schwarz abgehängten Wänden konnte es einfach nicht so finster sein.
    Kal Su streckte eine Hand aus und ließ sie langsam in die Schwärze eintauchen. Zu spüren war nichts, dennoch war es ein seltsames Gefühl, zu sehen wie ihre Hand scheinbar in einem Teich von Tinte verschwand. Sie zog die Hand wieder zurück und kramte aus ihrer Gürteltasche einen großen Rauchquarz hervor, ihr bevorzugtes Hilfsmittel um sich magische Strukturen zu betrachten.
    Sie machte eine Geste mit dem Stein auf die Zimmertür.
    "Gestattet Ihr? Versteht mich bitte nicht falsch, das hat nichts mit Mißtrauen zu tun, ich wüßte nur zu gerne, wie Ihr es schafft, daß das Licht sich scheinbar einfach weigert, diese Schwelle zu überschreiten."

  • Mit einer Gesichtsfarbe, die einer vollreifen Hagebutte Konkurrenz machen konnte, ließ Kal Su den Kristall sinken.
    "Laßt mich raten, Ihr hattet eigentlich darauf gewartet, daß ich in den zweiten Vorhang hineinlaufe und dann mit einem entsetzten Kreischen nach den vermeintlichen Spinnweben schlage? Schön zu wissen, daß Euer Humor noch voll funktionstüchtig ist.", grummelte sie leise und machte einen vorsichtigen Schritt in die Schwärze hinein.
    Übel nehmen konnte sie es Bar'akan nicht, daß er sich gerade über sie amüsierte, dafür mochte sie den Drow einfach zu sehr.
    Nach einem weiteren kleinen Schritt trafen ihre ausgestreckten Hände tatsächlich auf eine weitere Stoffbahn und sie zog sie vorsichtig beiseite. Kurz darauf stießen ihre Finger auf Holz und mit ein wenig Tasten identifizierte sie es als Tischplatte. Zwei tastende Handgriffe später hatte sie auch einen der beiden Stühle erwischt und ließ sich darauf nieder.
    Sie schloß ihre in der Dunkelheit sowieso nutzlosen Augen und lauschte auf die Geräusche von Bar'akans Bewegungen.