Eine Frage des Glaubens

  • Der Pater runzelte die Stirn. Ob es irgendjemanden auf diesem Kontinent gab, mit dem sich Naira noch nicht überworfen hatte? Er hoffte um ihrer Sicherheit willen, dass dem so war. Dass die Eisernen sich Rechte herausnahmen, die ihnen nicht zustanden, und die im Zuge des Kriegsrechtes sogar sanktioniert wurden... nun ja, das war immerhin vorstellbar. Er selbst und das Fräulein Salbei waren allerdings täglich durch ihr Lager gelaufen und hatten nie irgendwelchen Ärger gehabt. Aber dass der Ring der Heiler Leute umbrachte, sie verbluten ließ und andere daran hinderte, sie zu retten? Das war alles sehr seltsam.


    Das erklärt, was ihr von ihnen haltet. Könnt ihr mir etwas darüber sagen, was sie sind?

  • Das Spitzohr lächelte traurig .

    "Es ist nicht so einfach! Ich halte von ihnen mehr, als du vielleicht jetzt denkst! Sie sind der ewige Orden, der den Segen der Elemente in sich trägt und für sie alles gibt!

    Du hast mich gebeten, mit dir über die Elemente zu sprechen - und den Glauben daran. Von niemandem wirst du mehr darüber lernen können als von ihnen!


    Aber auch, welche seltsamen Ränke daraus im Zwielicht entstehen können ... wie nah der wahre Glaube und große Schuld beieinander liegen können.


    Das Tragische ist - im Norden zu siedeln und im Lager der Exzellenzen zu wohnen auf dem Feldzug, könnte aus Sicht der Eisernen genug sein, um all deine guten Absichten und dein Verlangen nach Wissen unwichtig zu machen!

    Und jetzt wohnst du noch bei Spitzohren und Grünhäuten! Aus Sicht der Ostlinge sind wir TIERE! Ist dir das klar?!"

  • Ob uns das klar ist? Immerhin ahne ich das inzwischen. Aber womit wollt Ihr mich erschrecken, werte Naira? Ich habe mindestens die Hälfte meines Lebens mit Aussätzigen zugebracht. Dagegen sind Elfen und Orks angesehene Leute.

    In der Tat war es der ehemalige Ordensprior durchaus gewöhnt, dass man einen respektvollen und gleichzeitig furchtsamen Abstand zu ihm hielt. Das lag vor allem daran, dass die meisten Menschen die Infektionswege nicht kannten, auf denen sich Lepra verbreitete. Auch lag es daran, dass man den Betroffenen im Anfangsstadium die Krankheit oft nicht ansah. Aber Naira hatte es natürlich anders gemeint.

    Ich sehe das so:“, fügte er erklärend an, „wir sind in der glücklichen Lage, ein Volk kennenzulernen, von dem wir vor einem Jahr noch nicht einmal gehört hatten. Wir haben die Chance, uns dabei aus eigener Anschauung eine Meinung zu bilden über diese ... Tiere ... mit denen wir hier leben werden.“ Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Eine Meinung aus eigener Anschauung ist das beste Schwert, um Vorurteile zu entwaffnen. Und glaubt mir, Loyalität und Freundschaft sind mir von jeher wichtiger als die Meinung anderer Leute über meinen Umgang.

  • "Ich danke dir!" sagte Naira ernsthaft. "Für deine richtigen Worte. Und weil du es so siehst. Ich will dich nicht erschrecken. Aber du sollst wissen, wofür du dich entscheidest, wenn du hierbleibst.


    Wenn du für Ausgestoßene gesorgt hast, kennst du es, dass du etwas Richtiges tust, aber die Leute trotzdem nichts mit dir zu tun haben wollen!

    Vielleicht haben dir auch manche Leute unterstellt, du würdest durch die Behandlung die Krankheit absichtlich weiter verbreiten? Oder du habest sie selbst verursacht?


    Vielleicht kannst du mir beibringen, damit gelassen umzugehen. Aber mein Volk hat soviel Ungerechtigkeit in den Mittellanden ertragen, dass mein Blut BRENNT, wenn sich diese Ostlinge oder Eiserne oder sonstige Verteidiger von Mythodea selbst vergessen! Wenn ein Gobbo seine Suppe auf deine Füße kotzt, bist du wahrscheinlich weder überrascht noch bestürzt. Aber wenn das ein feiner Herr tut, wirst du dich fragen, an welcher Krankheit er leidet!


    Wenn irgendwelche Siedler aus Vorurteilen heraus Leute verfolgen, wirst du seufzen und sagen `das war ja zu erwarten auf einem Kontinent, der im ständigen Krieg ist´! Aber von den Herrschern, von den Ewigen Schwertern, von den Töchtern der Tugend, von den Protektoren und Provinzkönigen, von den Kommandeuren habe ich immer erwartet, dass sie mit gutem Vorbild vorangehen!

    Mein Blut brennt, wenn ich Schande in Wort und Tat von hohen Leute erleben muss!

    Es ist schwer, sich ihnen dann noch unterzuordnen. Das ist ein Grund, warum du hier im Norden viele Leute treffen wirst, die auf dem Schlachtfeld grundsätzlich auf Kop-Tar warten, selbst wenn die Almahandra höchstpersönlich sie auffordert mit ihr loszukämpfen!


    Zählt nur die große Tat, im wehenden goldenen Mantel und mit den Zauberwaffen in der edlen hand? Oder zählt es, dass einer auch den Aussätzigen behandelt? Auch den Ork anhört? Auch einer dunklen Elfe Schutz gewährt mitten unter Grünhäuten?!


    Was gefällt den Elementen mehr? Der Fundamentalismus, vor dem wir mittlerweile ebensoviel Abscheu und Terror empfinden wie vor dem Feind? Oder der Versuch der kleinen Leute, den Elementen gerecht zu leben, ohne all diese Wunderdinge und Legitimationen und Schwüre und Todesurteile zur Verfügung zu haben?"

  • Ich könnte jetzt lauter Weisheiten von mir geben, die mich mein Mentor lehrte und die ich, wenn es darauf ankommt, auch eher nicht beherzige.“ Entgegnete der Pater nachdenklich. „Erlaubt mir stattdessen ein offenes Wort.


    Ihr habe viel Ungerechtigkeit erlebt und offenbar auch viel erlitten, werte Naira. Ihr seid gekränkt und vielleicht sogar ein stückweit verbittert. Ihr seid verärgert, dass man Eure Kompetenz nicht wertschätzt. Ihr seid zornig über die mangelnde Weisheit und Stärke der Herrscher und Würdenträger um Euch herum. Aber Zorn und Verbitterung vernebeln uns den Blick für das Wesentliche — wir selbst sind in der Regel nicht das Wesentliche — und sie rauben uns die Kraft, das Richtige zu tun. “ Der Pater machte eine Pause, und in seinen Gesichtsausdruck mischten sich Trauer und Schmerz.

    Seht Ihr, ich selbst war sehr früh in meinem Leben verantwortlich für 50 Seelen und eine Abtei. Zwanzig Jahre später waren es etwa Tausend, und halb Brittanien, für das mein Orden zuständig war. Ich hatte direkten Zugang zum König. Und dennoch... mindestens die Hälfte dieser Menschen dürfte heute tot sein. Sie sind tot, weil ich nicht die Weitsicht besaß, eine Intrige zu erkennen, die vor meinen Augen stattfand. Und wenn ich die Anzeichen sah, dann hatte ich nicht den Mut, dagegen bei der Krone zu opponieren. Was soll ich den 500 Seelen sagen, die mich anklagen? Ich sei leider nicht weise genug und nicht stark genug gewesen, um sie zu retten? Ja. So ist es leider. Und niemand klagt mich mehr an, als mein eigenes Spiegelbild. Und wäre ich seither der Verzweiflung verfallen, dem Zorn, der ohnmächtigen Wut, dann hätte ich nicht die Kraft gefunden, wenigstens das Fräulein Salbei zu retten. Und glaubt mir, mich selbst zu retten, darum ging es mir nicht.


    Ich glaube, ... Nur, wenn wir den Zorn abschütteln, bekommen wir einen klaren Blick dafür, was andere und was wir tun können. Und nur dann finden wir die Kraft zu tun, was wir tun müssen.

  • Das Spitzohr hatte ganz ruhig zugehört und wartete auch jetzt noch einen Moment, um ihre Worte zu sammeln.


    "Das meinte ich nicht. Jeder auf diesem Kontinent ist auf vielerlei Weisen verletzt und enttäuscht worden. Ich meine etwas GANZ ANDERES, Richie."


    Sie betrachtete sein Gesicht, in dem sich die Müdigkeit des Vergangenen und die Hoffnung auf das Zukünftige mischten.


    "Damals hast du deine Aufgabe als Klostervorstand getan, und dann hat jemand etwas angezettelt und du hast es nicht verhindert. Hier wirst du dich aber entscheiden müssen, was deine Aufgabe ist! Hier gibt es nicht EINE Krone. Nicht EINEN Intriganten.

    Auf Mythodea stehen sich mehrere Aufgaben und mehrere Rechtsauffassungen unversöhnlich gegenüber. Ein Teil ist weltlich, ein Teil religiös, aber oft ist es irgendwo dazwischen!


    Es wäre einfacher, wenn ein Archon eine rein weltliche Instanz wäre, oder die Ewigen Schwerter rein religiös. Aber alles ist miteinander vermischt, und unser Heer ist UNEINS!

    Personen verändern sich hier ständig, wechseln die Siegeln, wechseln die Seiten, werden assimiliert oder vom Zweifel befallen, tragen Parasiten in sich und alte Feindschaften wegen verflossener Liebschaften!

    Unser Lager hat sich den Wahlspruch genommen `Einigkeit, Stärke, Zusammenhalt´! Aber unsere eigenen Gesetze werden unterschiedlich auf die verschiedenen Personen angewandt! Wenn dir jemand Misstrauen entgegenbringt, hast du die gleiche Würde und die gleichen Rechte wie ein Verfehmter. Es gibt Sklaverei im Norden. Es gibt Intrigen untereinander.

    Es gibt Intrigen unter den Ewigen Schwertern und Intrigen unter den Khalarin.

    Liandra hat versucht, Kashalee zu stürzen, um für den Norden besser zu sorgen als sie. Wo ist sie jetzt? Sie hat den Norden im Stich gelassen und sitzt jetzt im Westen an der feinen Tafel.

    Sie ist nur eine von vielen, bei denen es so lief. In gewisser Weise war es bei mir nicht anders.


    Weißt du, es wäre so einfach, wenn uns die Elemente direkt mitteilen würden, wer recht hat! Oder wenigstens, was richtig ist! Aber diejenigen, die in ihrem Namen sprechen zu dürfen GLAUBEN, begehen offenkundig schreckliche Dinge!

    Wenn wir uns entscheiden müssen, WANN und MIT WEM und WAS wir in diesem Krieg tun, brauchen wir Orientierung! Und diese Orientierung ist FORT!

    Entscheidest du dich für die Richtungsweisung des einen, kann dich ein anderer, mit ebensoviel Recht, zu Tode bringen lassen!


    Wir haben den Weltenwächtern geholfen, dort hinauf zu kommen! Und dann verbietet es unsere Nyame, ihn auf nördlichem Reichsgebiet anzurufen!

    Wenn du hier lebst, musst du dich dieser Entscheidung beugen! Zum Glück begehe ich aber kein Sakrileg, wenn ich sage, dass ich keine sehr akute Sorge hatte, der Weltenrat könne korrumpiert sein oder der Feind könne davon Nutzen ziehen, wenn wir zum Weltenrat sprechen.

    Denn unsere Nyame lässt es zu, darüber nachzudenken, auch wenn sie von den Elementen und dem Land gesegnet und erfüllt ist.

    Es gibt andere Leute, die es als Sakrileg sähen, wenn man ihre Meinung nicht teilt!


    Und nun, wenn ich über die Bedenken der Nyame nachdenke und meine Handlungen anpasse, schade ich aus Sicht anderer Leute dem Glauben. Dem Land. Schädige ich meine Aufgabe als Khalarin und die Gemeinschaft der Khalarin insgesamt!

    Warum leisten wir im nördlichen Siegel nicht den Eisernen Eid? Sind wir damit Verräter?

    Sind wir Ungläubige, wenn wir hier noch unsere heimischen Götter ehren?

    Welche Nyame hat mehr Recht als die andere?

    Sind die Leute im Norden ein Haufen aus Orientierungslosen und Paktierern? Oder sind wir das Gewissen und die Vorsicht dieses Kontinents?


    Wenn du hier lebst, Richie, wirst du womöglich in den Augen des größten Teils des Heerzugs selbst so etwas wie ein Aussätziger sein und man wird dir mit Misstrauen begegnen, weil man denkt, dass diesmal DU derjenige bist, der eine Intrige anzettelt..."

  • Es entstand eine Pause, in der der Pater nachdachte, wie er Nairas Schilderung verstehen sollte. Auch war er sich nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte.

    Was wollt Ihr mir jetzt sagen?“, fragte er schließlich. „Dieser Kontinent ist heillos zerrissen und gespalten zwischen divergierenden Interessen und Egoismen? Und nicht einmal die Bedrohung durch einen gemeinsamen Feind vermag zu bewirken, dass sich die Fraktionen der Siedler besinnen? Auf niemandes Wort kann man sich verlassen? Gesetze und Herrscherurteile sind beliebig willkürlich? Diese Welt ist noch viel furchtbarer als die, aus der wir kamen, denn Weisheit und Stärke der Herrschenden kann man hier nirgendwo unterstellen?“ Der Pater sah Naira ernst an. „Ich nehme an, Ihr wollt mir jetzt nicht vorschlagen, wir sollten auf der Stelle verzweifeln und uns ins Meer stürzen. Was also dann? Meint Ihr, wir überlegen es uns anders und reisen zurück nach Porto Leonis? Oder in die Mittellande? Oder nach Brittania? Nein! Das werden wir nicht tun. Was wollen wir also tun, Naira, um zumindest diesen Flecken Erde zu einem zu machen, auf dem wir und die Unsrigen einigermaßen unbehelligt leben können?

  • Wir sind nicht so weit geflohen, um jetzt zu resignieren. Aber ich bin mir auch noch nicht sicher, wie man in dieser Haifischbucht politisch und physisch überleben kann. Herrschende Macht besitzen wir nicht, und mir fehlt das Wissen über die politische Struktur dieses Landes. Im Prinzip würde das Bekleiden eines wichtigen Amtes für mehr Sicherheit sorgen. Obwohl ich Euch ja gerade erzählte, dass man dabei auch grandios scheitern kann. Man kann sich auch von der Welt zurückziehen, aber das setzt versorgerische Autarkie voraus, die wir nicht haben. Wir können uns durch Handel unentbehrlich machen, aber das schützt nicht vor der Habgier unserer Nachbarn. Wir können militärisch aufrüsten, aber dazu sind wir zu wenige.


    Im Moment sagt mir mein Bauchgefühl, dass wir an politischem Einfluss gewinnen müssen. Erstens bietet dies Zugang zu Informationen, und wenn dieser Kontinent so verworren ist, wie Ihr sagt, dass sind Informationen direkt vom Hofe überlebenswichtig. Zweitens eröffnet dies die Möglichkeit, Entscheidungen zu beeinflussen, die uns selbst betreffen. Drittens verschafft uns ein politisches Amt Entscheidungs- und Gestaltungshoheit. Wenigstens innnerhalb unseres eigenen Machtbereiches könnten wir für Integrität und Rechtssicherheit sorgen.

  • Naira hörte auch hier wieder geduldig zu und blickte den Pater dabei forschend an. Er war auf dem besten Weg zu begreifen, was von ihm verlangt werden würde, hier in Kjona! Er regte sich auf und er wehrte sich, doch noch hielt er sich zurück.


    Die Lethi hatte dem Menschen annähernd nichts über ihre eigenen politischen Verbindungen erzählt; sie hatte nur versucht anzudeuten, auf was er sich einließ. Aber er konnte es sich offenbar nicht vorstellen.

    Nun, er würde es noch feststellen, was hier in Kjona vor sich ging. Naira war sich bloß nicht sicher, wann der beste Zeitpunkt sein würde, um ihn in Kenntnis zu setzen.

    Wenn er es zu spät miterleben würde, würde er sich womöglich hintergangen fühlen.


    Sie schüttelte den Kopf.

    "Du sprichst jetzt davon, dass deine Entscheidungen eine größere Wirkung auf diese Welt bekommen sollen. Aber ich versuche dir zu sagen, dass es auf Mythodea für dich sehr sehr schwer werden wird, Entscheidungen zu treffen! Nicht weil man dich nicht ließe. Sondern weil es schwer ist, die Wahrheit zu verstehen!


    Ich versuche dir zu sagen, dass es sehr sehr schwierig ist zu erkennen, wer sich tatsächlich auskennt und Recht mit seinen Annahmen hat und was er wirklich beabsichtigt. Es ist alles verworrener und verborgener als auf anderen Kontinenten. Und gerade die wichtigen Leute - die von denen du Infos möchtest - gehen in den Schatten... ähm... wie soll ich es ausdrücken? Sie haben verschiedene Gesichter."


    Einen Augenblick lang schwieg sie nachdenklich, und der Pater erkannte, dass da noch etwas kam. Ihre Augen verloren sich geradezu in seinen, als sie leise anfing:


    "Weißt du... ich habe dreimal eine Aufgabe erhalten, um mich zu beweisen, hier auf Mythodea. Die erste hat mir Magica gegeben. Sie sagte, ich solle einen... großen Mann beobachten gehen. Ich solle ihm helfen, zu ihr zurück zu finden - wieder zu einer Verbindung zu kommen. Da habe ich das erste Mal verstanden, wie sehr selbst die größten Entscheider auf Mythodea in Gefahr sind, verführt und korrumpiert zu werden!

    Das hat mich erschreckt!

    Du wirst, wenn du hier bleibst, solche Männer kennenlernen. Und wenn ich dir raten darf - dann lausche nicht nur auf die Informationen, die sie dir geben. Höre auf das Schweigen dazwischen - auf das, was sie nicht sagen wollen. Beobachte, wie sie in den Schatten gehen... Und wenn du in deinem Brustkorb voll und ganz spürst, dass du niemandem auf Mythodea vertrauen darfst, der nicht mit deiner Seele selbst verbunden ist - DANN erst solltest du nach einem Amt greifen!

    Denn dann verstehst du die Schatten.

    Es wird ein dunkler Tag sein, und ich werde bei dir sein. Ich werde dir helfen, die Dunkelheit in dir zu spüren - den Zorn, die Verzweiflung, den Wunsch nach Rache und Vernichtung - und werde dir helfen, daran zu wachsen. DAS ist es, wofür ich hier bin!"

  • Lasst uns zwei Dinge unterscheiden.“, schlug der Pater vor, der sich immer noch nicht sicher war, ob sie beide immer von denselben Dingen sprachen. „Da ist zum einen Kjona, das nenne ich das Innen. Und dann haben wir den Rest des Kontinents, das nenne ich das Außen.


    Was wollen wir für das Innen?

    Wir wollen in Frieden leben, keine Kriege führen müssen, stabile Handelsbeziehungen pflegen, von denen wir gut leben können. Wir wollen unsere eigenen Entscheidungen treffen dürfen. Wir wollen uns hier mit Besuchern, die wir uns selbst aussuchen, über Themen unterhalten können, die wir selbst wählen, auf eine Weise, die wir für richtig halten. Und ansonsten würden wir gerne in Ruhe gelassen werden. Habe ich etwas vergessen?


    Was wollen wir für das Außen?

    Ich persönlich eigentlich: gar nichts. Notgedrungen wird man aber nach außen Dinge tun müssen, um das zu gewährleisten, was wir nach innen wollen. Dazu gehören diplomatische Beziehungen, Informationsbeschaffung, Sicherstellen militärischen Schutzes. Korrigiert mich, wenn Ihr das anders seht.


    In allen Herrschaftssystemen, die ich kenne, läuft dieser Anspruch darauf hinaus, dass man seine eigene lokale Verwaltungshoheit besitzt, ein Lehen, eine Grafschaft, eine ...wieauchimmer hier im Norden solch ein Amt heißen mag. Denn ohne diese Verwaltungshoheit regieren hier andere, und nicht wir. Und in allen Herrschaftssystemen, die ich kenne, ist damit eine Verpflichtung gegenüber der nächst größeren Verwaltungseinheit verbunden. Ein Lehenseid, oder wie auch immer man das hier macht.


    In meinen Augen hat das noch nicht viel damit zu tun, für Mythodea oder sonstwie nach außen Entscheidungen zu treffen. Aus Entscheidungen nach außen würde ich mich tunlichst heraus halten. Und wenn das nicht geht, dann habt Ihr gewiss die nötige Erfahrung, mich kompetent zu beraten. Und nein, ich gehe nicht davon aus, dass Ihr ein solches Amt bekleiden wollt. Wenn Ihr das wolltet, würdet Ihr es gewiss tun.


    Was es also als nächstes zu wissen gilt, ist, welche Art von Amt brauchen wir? Wir erwirbt man es? Wem gegenüber verpflichtet man sich? Und welche Verpflichtung geht man damit ein?


    Der Pater machte eine Pause und lächelte entspannter.

    Aber was noch viel wichtiger zu wissen wäre, ist: was genau ist eigentlich Kjona? Wer genau lebt hier? Wie lebt man hier? Was wollen die anderen alle, die hier leben?

  • Naira seufzte. So viele Fragen auf einmal! Ihr schwante, wie sie selbst auf ihre Umwelt gewirkt haben mochte, als sie nach Mythodea gekommen und selbst einen Berg an Fragen gehabt hatte...


    "Kjona ist eine Art Tempelbezirk, wie die Menschen es nennen würden. So ist es gedacht. Ein Ort für die Heilung des Körpers aber vor allem des Brustkorbs. Ich habe eine Zeitlang im Tempel Terras im Westen gelebt. Es sieht hier anders aus - über der Erde - aber es ist im Prinzip sehr ähnlich."


    Sie atmete langsam aus. Das alles in Worte zu fassen, war schwer.

    "Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns...* Wir müssen begreifen, dass wir fortwährend töten, fortwährend trauern, fortwährend heilen. Es gibt keinen Rückzug vor dem Krieg auf diesem Kontinent! Als Einzelner kannst du in den Wäldern gehen, ohne einem Befehl Folge zu leisten..."
    Ihre Augen gingen automatisch zum Wald, auf den sie so oft blickte, als halte sie nach etwas oder jemandem Ausschau.


    Dem Pater dämmerte es langsam, dass es sich bei Kjona um eine Art von Sanatorium für die Seele handelte. Allerdings funktionierte Nairas Tätigkeit nicht darüber, den Leuten einfach Hoffnung zu geben. Sie schien ganz offenkundig - so wie sie es mit Richie selbst getan hatte - immerzu das Dunkle, das Schmerzhafte und das Ungenügende herauszugreifen!

    Das hatte etwas zutiefst Orkisches, wenn man es genau betrachtete. Es war wie eine Rosskur, mit Naira über die Zukunft zu sprechen. Ständig blickte sie in Abgründe und Tiefen.


    "Spätestens im Sommer müssen wir aber wie alle anderen hinaus und dem Heerzug folgen. Man sucht sich einen Anführer, auf dessen Stärke man setzt, um wieder nach Hause zu kommen. Vorher war Teroc hier der Protektor des ganzen großen Landstrichs, genannt Sah´tubaah. Aber er ist fort. Das land wird kommissarisch verwaltet von den Höflingen. Irgendwann wird jemand kommen und es beanspruchen. Dann werden neue Protektorate aus Sah´tubaah entstehen, und ich hoffe, dass Kjona einen guten Protektor erhalten wird!

    Jemand, der versteht, worauf es hier ankommt, und der uns nicht behindert!

    Denn wir machen Rituale hier, um uns zu befreien von den schrecklichen Dingen, die wir in dieser Welt erleben. Geheimnisse gehen durch diesen Ort - Dinge, die man vergessen möchte und doch erinnern muss! "




    * Rilke: Sonette an Orpheus, Sonett 11b

  • Naira konnte die Müdigkeit in des Paters Augen sehen, der inzwischen aufgestanden war und etwas rastlos durch den Raum lief. Er war ein sehr geduldiger Mensch, der auch in schwieriger Lage die Ruhe behielt und die Dinge strukturieren konnte. Er merkte, wie seine Fragerei Naira auf die Nerven gehen musste. Allerdings empfand er es als schwierig, sich die gesuchten Antworten aus einer Wolke von Nebeninformationen und Katastrophenberichten heraus zu klauben und zu einem Bild zusammenzusetzen. Er nahm sich vor, seine Fragen noch präziser zu stellen.


    Also“, begann er zu rekapitulieren, „dem Krieg kann man sich kaum entziehen. Das Ziel für Kjona muss sein, ihn von unserem Land fern zu halten.


    Kjona ist Teil von Sah‘Tubaah, Herschaft erfolgt kommissarisch durch die Bürokratie der Nyama. Die Verwaltungseinheit, nach der ich fragte, ist das Protektorat. Das erwähnte Amt ist das eines Protektors. Der Protektor ist wem verpflichtet? Der Nyame selbst?


    Wir führen hier Rituale durch? Inwieweit sind die Rituale ein Problem für andere? Außerhalb von Kjona?

  • "Die Protektoren bekommen das Land von der Nyame geliehen, so wie ich es gehört habe!" bestätigte Naira.


    Ihre eigenen Gedanken waren zu einem ganz anderen Ort gewandert - in den Westen, zu Tarabas. Es war wahrscheinlich nicht der richtige Moment, um den Gästen von ihm zu erzählen, aber sie nahm sich vor, das nicht zu vergessen.


    "Sie haben die Aufgabe, das Land für die Nyame zu verwalten und zu schützen und es in gewisser Weise fruchtbar und lebenswert zu machen! Jedes Volk auf seine Weise. Einige mehr oberirdisch, andere mehr unterirdisch.

    Im Nördlichen Siegel ist es erlaubt, noch die Götter von den anderen Kontinenten zu ehren. Nur auf den Feldzügen und Zusammenkünften ist es nicht jedem gestattet, Blut zu opfern oder so!

    Das eine ist das, was wir `zu Hause´ tun. Das andere, was man nach außen tut. Es gitb welche, die es sich schon erarbeitet haben, dass man sie mit ihren Ritualen in Ruhe lässt. Andere machen sich noch verdächtig.


    Das ist auch was Politisches. Kop-Tar akzeptiert, dass direkt vor seinem Zelt die Leute vom Chaos und die Slaneeshis blutiges Zeug tun. Menschenschädel liegen herum und herausgerissene Wirbelsäulen werden als Dekoration verwendet!

    Sie feiern die Nacht des Dunklen Prinzen und panschen mit Nachgeburten herum. Aber mir gegenüber wird er reserviert, wenn ich Terras Kraft, zu töten und das Schwache zu vernichten, anrufe!

    Er ist der Pate von Khenai, aber er wäre sehr vorsichtig, das an die große Glocke zu hängen.

    Vielleicht liegt es nur daran, dass ich nicht richtig erklären kann, was wir in Kjona tun. Vielleicht ist es wirklich dunkler und riskanter als die Ausschweifungen der Blut- und Dämonenanbeter.


    Da mir das aber noch niemand richtig erklären konnte, gehe ich davon aus, dass es an meiner Rasse liegt. Wir bleiben fremd und den Anderen unangenehm. Vielleicht zur Recht!

    Ein Protektor von Sah´tubaah oder jemand, der Kjona schützt, sollte um diese Umstände wissen.

    Auf Mythodea gibt es nur wenige Orte, an denen Meinesgleichen ihre Kultur weiter ausleben können. Kjona gehört dazu. Deswegen wird das aber immer ein dunkler Fleck aus der Sicht bestimmter Leute bleiben, und wir müssen freundlicher und hilfreicher sein als andere, um nicht vertrieben zu werden..."

  • Ist das nicht im Grunde genommen immer so? Ist man nützlich oder notwendig, dann darf man auch tun, was einem beliebt.“, bemerkte der Pater zerknirscht und dachte dabei an seine Erfahrungen mit dem Umstand, eben nicht mehr benötigt zu werden. „Man agiert komfortabler aus der Position des Stärke heraus. Gibt es etwas, dessentwegen Kjona für das nördliche Siegel von Wert wäre? Oder gar von strategischer Notwendigkeit?“ Der Pater wanderte weiter durch den Raum, so als würde er über die richtige Schlachtordnung nachdenken. Derweile meldete sich das Fräulein Salbei zu Wort: „Der Archon selbst ist Khenais Pate? Das ist aber spannend!“, sagte sie und sah Naira verwundert an. Der Pater unterbrach seine Wanderung und stutzte, so als haber er plötzlich einen weißen Fleck auf einer wohlbekannten Landkarte entdeckt. „Oh ja, mein Mündel, es ist offenbar doch nicht alle Erziehung an Euch vergebens gewesen. Vielleicht gibt es auch jemanden, der für das nördliche Siegel von Wert ist. Darf man fragen, wer denn der Vater des Jungen ist?

  • Naira hatte gerade dazu ansetzen wollen , über die Arus zu sprechen , als die Frage nach Khenai sie kurz aus der Bahn warf. Sie sah verwirrt drein.

    "Er hat keinen Vater." sagte sie, als sei das ja wohl offensichtlich .

    "Er hat mehrere Paten , damit er wählen kann , welchen Weg er geht . Ich hielt das für sinnvoll , damit er... nicht ohne väterlichen Rat ist . Aber er hat sie schon lange nicht mehr gesehen. Er ahmt sie nur nach. Bloß das, was er nachahmt , ist eher SEIN Bild von ihnen , nicht die Wahrheit ..."


    Sie biss sich auf die Lippen . Ihr selbst ging es ja nicht anders .

  • Oh, ähm, entschuldigt, werte Naira“, entgegnete der Pater mit einem süffisanten Tonfall, „ich hatte ja keine Ahnung, dass Elben das Geheimnis der asexuellen Vermehrung gelüftet haben. Entschuldigt meine impertinente Frage.“ Womöglich war es etwas sehr ambitioniert, den Sohn einer umstrittenen Elbe bei Hofe als Pfand für politischen Einfluss zu missbrauchen. Und ungehörig war es obendrein. Aber er würde sich das Ass in den Ärmel stecken. „Aber lassen wir das. Fallen Euch noch andere Gründe ein, weshalb Kjona für das nördliche Siegel von Wert sein sollte?

  • Die Lethi runzelte die Stirn. Sie konnte verschiedene Dinge nicht leiden, aber wenn sich jemand über Khenais Herkunft ausließ, musste sie einschreiten!


    "Ja! Haben wir!" sagte sie heftig und mit einem herausfordernden Ausdruck, während sie hochfuhr. "Haben wir allerdings! Etwas, das du nicht verstehen KANNST, Najor!"


    Da war er wieder, der Zorn auf die Menschen! Sie hatte sich die ganze Zeit zusammengerissen, diese unsäglich einfältige, pragmatische Art des Menschen hinzunehmen. Wie konnte er über Kjona - über sie - über Khenai urteilen, ohne zu verstehen?!


    "Kjona ist NICHTS! Ein Fleck Erde, irgendwo!" Sie wurde laut und machte wegwerfende Handbewegungen. Sie meinte es tatsächlich so.


    "Nichts ist exklusiv hier! Wir könnten genauso gut woanders sein! Wir WAREN schon an vielen Orten! Das einzig Wertvolle hier - sind WIR. Die Lethi. Und die Erinnerungen und Geheimnisse, die wir in uns tragen!
    Das lässt sich nicht in Gold ausdrücken! Nur in Macht!

    Ich bin mächtig, weil ich mein Wissen nicht ausspiele! Weil ich das, was Andere schmerzt, für mich behalte!

    Ich besitze das VERTRAUEN von gefährlichen, zerrissenen Leuten, denen Andere nicht trauen sollten! Verstehst du das?!


    Und wegen diesen Beziehungen misstrauen mir andere Menschen und ich hüte mich davor, ein Amt zu ergreifen, damit ich weiter ungestört meiner Wege gehen kann!

    Die Geschichte mit dem Weltenrat war schon zuviel! Menschen sehen mich bei den Ritualen; man erkennt mich wieder!

    Meinst du, ich wechsele so oft meine Kleider, weil ich so unstet wäre?!


    Los! Sag! Wie willst du DAS in Wertmaßstäben ausdrücken? Dass wichtige Leute mir vor allen Anderen trauen, weil ich keinem diene als den Elementen?! KEINEM AUSSER DEN ELEMENTEN!

    Weil mich weltliche Macht nicht interessiert! Weltliche... Pläne und Gründe!"

  • Na endlich!“, seufzte der Pater und setzte sich wieder. Er griff sich seinen Tee, lehnte sich zurück und lächelte Naira an. „Können wir dann jetzt endlich darüber reden, was hier vor sich geht? Oder glaubt Ihr, ich wäre so einfältig zu glauben, Ihr brauchtet ausgerechnet mich, um Kjona wozu zu machen? Einen Flecken Erde mit strategischer Bedeutung?“ Er schnaubte belustigt. „Ihr spielt ein Spiel und braucht mich als Figur. Oder sogar uns beide. Und wäret Ihr nun so gütig uns aufzuklären, worum es wirklich geht?“. Pater Richie guckte immer noch freundlich, denn er hatte tatsächlich keine Lust, sich zu streiten. Aber um den heißen Brei, so fand er, waren sie nun lange genug herum geschlichen.

  • Die Lethi presst die Lippen aufeinander. Sie so primitiv ausquetschen zu wollen!


    Sie lief eine Weile im Raum herum, wähend der Pater wartete. Ganz offenkundig rang sie mit sich, inwieweit sie ihre beiden Gäste ins Vertrauen ziehen wollte.


    Vertrauen. Das war es. Darum war es schon immer gegangen.


    "Wir sind im Krieg. Gegeneinander. Das habe ich dir schon gesagt!" stellte sie fest. "GEGENEINANDER. Aber diejenigen, die mich aufgezogen haben, haben sich um einen NEUEN WEG bemüht, damit wir überleben.

    Es wurde viel nachgedacht. Dinge geflüstert.

    Schon lange vor der Spiegelwelt.


    Gefährliche Dinge steckt man in eine unscheinbare Tasche, damit sie nicht gefunden werden.

    So wie das Artefakt von Ain Schwefelnies in meiner Tasche.

    Ich selbst wurde in den Westen gebracht, in den Tempel Terras, als ich erwacht bin.

    Auch Kjona ist eine unscheinbare Tasche.

    Hm... Du brauchst es in menschlichen Worten..."


    Naira hatte angefangen, die bildhaften Konzepte ihrer eigenen Sprache fast wörtlich in die Sprache des Paters zu übersetzen. Es wurde zunehmend kryptisch, und sie riss sich zusammen.


    "Kjona ist eine Tasche für Leute, die miteinander einen Bund eingegangen sind. Jeder hat ein Ritual... eine Initiation gemacht und etwas Großes geopfert.

    Man kann sie beschreiben als..."


    Das Wort , übersetzt in Menschensprache, klang missverständlich, daher wählte sie ein weniger drastisches.


    "Jäger."