Eine Frage des Glaubens

  • Die Elfe lachte sarkastisch.

    "Also weißt du... sollten euch irgendwelche Leute gefolgt sein, dann werden die ganz andere Probleme auf Mythodea haben, als EUCH zu verfolgen! Wenn die nicht aus persönlicher Rache hinter dir her sind, sondern auf Befehl hin hierher gereist sind - dann werden die wahrscheinlich schnellstmöglich das Weite suchen! Wer tut sich das denn an, zwischen Ratio und Schwarzem Eis zwei Leute zu suchen, nur um einem fernen König berichten zu können, man habe euch umgebracht!

    Wenn jemand die Lage hier sieht, würde er mit einigem Recht sagen können, dass ihr sehr wahrscheinlich nie wieder zurückkommen werdet und dass euer Schicksal hier in jedem Fall Strafe genug ist... Und auch dieser Pirat wird hier mehr Gold durch andere Aufträge machen können, als wenn er nach euch sucht.

    Man überlegt es sich wohl auch zweimal, Nordbürger umzubringen! Unsere Exzellenz die Nyame ist nicht dafür bekannt, weichherzig und entscheidungsschwach zu sein! Abgesehen davon, dass auf den Feldzügen ein Angriff auf Siedler mit dem Tode bestraft wird.

    Und zu guter Letzt umgebt ihr euch mit Orks und Drow und anderem `Gelichter´. Warum sollte ein Pirat solche Risiken eingehen?

    Oder habt ihr womöglich etwas GESTOHLEN, was jemand zurückhaben möchte?"


    Das Spitzohr legte den Kopf schräg und blickte sehr interessiert. Es lag absolut in ihrem Vorstellungsbereich, dass man einen König bestahl und sich auf einen anderen Kontinent absetzte... auch Nairas offensichtlicher Reichtum beruhte nicht auf fleißigen Geeschäftstätigkeiten...

  • Der Pater war doch einigermaßen verwundert. Man hatte ihm schon einiges zu unterstellen versucht, aber Diebstahl und Bereicherung am Eigentum der Krone? Das war neu. Aber anstatt sich zu echauffieren, setzte er sein diplomatischstes Lächeln auf und erklärte freundlich: „Es beruhigt mich zu wissen, das die Nyame des Nordens keine Übergriffe auf die Bewohner des Nordens billigt. Allerdings kennt Ihr die Organisation der Anglikanischen Kirche schlecht, wenn Ihr glaubt, dass dies ihre Agenten von irgend etwas abhielte. Sie sind gut ausgebildet und haben subtile Methoden. Sie ziehen es vor, ihre Opfer zu isolieren, zu diskreditieren und am liebsten von Ihresgleichen beseitigen lassen. Sie selbst schreiten erst ein, wenn das alles keinen Erfolg zeitigt. Und auch dann kann man ihnen einen Mord niemals nachweisen. Wenn Euch also jemals jemand unschöne Dinge über uns erzählt, ganz gleich wer es ist, lasst es mich bitte wissen.


    Der Pater lehnte sich zurück und betrachtete nachdenklich seine Hände. „Um den Piraten mache ich mir keine Sorgen. Er wurde sicherlich dafür bezahlt, unser Schiff zu kapern. Oder man gab ihm lediglich den Tipp, es könne auf diesem Schiff etwas zu holen sein. Womöglich weiß er gar nichts von uns. Es könnte aber auch sein, dass die Agenten seine Kinder gefangen genommen haben. Allerdings hätten wir dann wahrscheinlich schon von ihm gehört.


    Ich will die Gefahr nicht herbei reden, werte Naira, ich will Euch nur erklären, warum wir uns immer noch nicht völlig sicher fühlen können.“

  • Aber weil wir gerade bei Agenten sind, da kommt mir noch eine Frage in den Sinn“, fuhr der Pater fort. „In Goldwacht wurde man sehr argwönisch, als ich den Wahlspruch Matha ett Indura fehlerfrei mit der neusprachlichen Übersetzung beantwortete. Man gab mir zu verstehen, dass nur Eingeweihte oder verfehmte Spione Mitranya’Wel sprächen. Könnt Ihr mir erklären, was es mit dieser Sprache auf sich hat?

  • "Damit kenne ich mich nicht aus!" gab Naira rundheraus zu.

    "Für mich sind die gesprochenen Sprachen an der Oberfläche schon schwer genug , weil sie meiner so wenig ähneln . Mit geschriebenem Zeug habe ich ungern zu tun . Mein Volk schreibt nicht . Und liest nicht . Kannst du sehen - hier !"


    Sie kramte in ihrer Tasche und hielt dem Pater ein kleines aufgeschlagenes Büchlein vor die Nase.

    Jemand - sehr wahrscheinlich Naira - hatte darin mit brauner Tinte ein Buchstabenmassaker angerichtet . Es waren zwar für den Pater unbekannte Zeichen , aber er konnte trotzdem leicht beurteilen , dass die Zeichen unbeholfen , unstet und mit nahezu verzweifeltem Energiaufwand zu Papier gebracht worden waren! Die Feder hatte mehrfach das Papier aufgerissen oder durchstochen.

  • Ich verstehe, was Ihr meint“, sagt der Pater stirnrunzelnd, als er die Schreibversuche betrachtete, die ihm, angesichts des Aufwandes, mit dem das Papier hergestellt worden sein musste, schon beinahe Schmerzen bereiteten. Allerdings konnte er sich noch gut an seinen eigenen Schreibunterricht erinnern. Er hatte viel geschrieben in seiner Funktion, aber an die Kunstfertigkeit, mit der die Brüder die klerikalen Schriften transkribiert hatten, war er nie heran gekommen.

    Nun, es hätte ja sein können“, sagte er dann, „Ihr könnt nicht zufällig einen Gelehrten empfehlen, der mir in dieser Sache weiterhelfen kann?

  • Wie gesagt, zu Goldwacht hat man einen Wahlspruch, der offenbar aus der Sprache Mitranya’Wel stammt. Niemand kennt sie, außer Eingeweihten und Spione des Schwarzen Eises. Und wenn etwas so dermaßen geheim ist, weckt es mein Interesse. Werde ich Teroc oder Tovak kennenlernen?

  • Meint Ihr, er könnte das Konzil besuchen? Na ja, ich werde es ja sehen.

    Aber sagt, ich wollte mich noch über etwas anderes unterhalten: über die zweite Schöpfung.

    Ich hatte noch nicht viel Gelegenheit, mich über die Verfehmten Elemente zu erkundigen. Die Siedler sind in aller Regel auch wenig auskunftsfreudig, was das Thema angeht. Soweit ich weiß, sind die Verfehmten Elemente jeweils Gegenelemente zur ersten Schöpfung.


    Das Schwarze Eis zu Ignis

    Die Absolute Leere zu Aeris

    Die Ölige Pestilenz zu Aqua

    Das Untote Fleisch zu Terra

    Die Technische Ratio zu Magica


    Aber ich fürchte, über den Charakter der Verfehmten weiß ich ebenso wenig wie über die sakralen Elemente.

    Könnt Ihr mir zusammenfassen, was ich unbedingt wissen muss?

  • "Sie waren ein großer Irrtum! Ein Versuch, sich selbst als Schöpfer zu betätigen! Von Leuten, die die Dinge nicht geschehen lassen, sondern geschehen MACHEN wollten! Ich hatte da mal... ein Bild..." sagte Naira nachdenklich.


    "Also nehmen wir an, du bekommst einen Sandkasten von deinen Eltern. Und dazu Förmchen. Du kannst damit erwünschte Dinge formen und sie zusammensetzen - du kannst daraus Mauern und Häuser, Burgen und Gärten gestalten! Aber das Material bleibt das Gleiche, auch wenn du fester oder lockerer drückst. Auch die Förmchen bleiben dieselben. Man würde meinen, dass das ausreicht, um unendliche Möglichkeiten zu schaffen!

    Aber dann kommst du auf die Idee, die Förmchen zu zerdrücken und eigene, neue Förmchen zu erschaffen. Du nimmst das Material, was da ist - weil es kein anderes gibt in deinem Sandkasten. Aber was herauskommt, sind deformierte Figuren, die nicht lange halten. Sie lassen sich nicht zusammensetzen mit den alten, ohne dass die Symmetrie und die die Beständigkeit gestört wird!


    Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe, aber so interpretiere ich das, was vor Urzeiten geschehen ist. Die Frage ist jetzt nur: Kehrst du zurück zu den alten Förmchen oder lernst du, solche neuen zu formen, die genauso vollständig und passend sind wie die ursprünglichen? Wirst du eines Tages die Kunst deiner Eltern beherrschen - oder wirst du auf ewig in einem Sandkasten sitzen, genügsam oder zornig mit dem, was du erhalten hast?"

  • Pater Richie folgte den Erklärungen Nairas mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln. Er hatte keine Ahnung, was ein Sandkasten oder Förmchen sein mochten. Auch fehlte ihm die Vorstellung, warum man aus Sand Mauern, Häuser, Burgen oder Gärten bauen wollen sollte. Aber er hatte eine Geschichte gehört, der zufolge die alten Herrscher die von den Quihen Assil übertragene Macht genutzt — oder missbraucht — hätten, um eine zweite Schöpfung zu kreieren.

    Eine interessante Frage, die Ihr da aufwerft“, sagte er schließlich, „und sie ist so alt wie die Wissenschaft selbst. Aus Sicht eines Wissenschaftlers stellt sie sich aber gar nicht. Natürlich wird ein Wissenschaftler stets danach trachten, das verfügbare Wissen zu mehren. Interssanter ist die Ethik hinter der Wissenschaft. Denn die Ethik stellt die Frage, was man mit dem gewonnenen Wissen anstellt. Und in Beantwortung dieser Frage kommt man gelegentlich zu der Einschätzung, dass erworbenes Wissen besser nicht jedem beliebig Leichtsinnigen überantwortet werden sollte. Und manche Dinge sollten besser wieder in Vergessenheit geraten. Ich weiß nicht, ob ich Euer Gleichnis richtig verstanden habe, aber Ihr hörtet Euch an, als gehöre das Wissen um die zweite Schöpfung auch in diese Kategorie.

  • Die Elfe lachte. "Ist das so? Wofür muss denn ein Wissenschaftler sein Wissen vermehren? Oder wann? Aus bloßer Neugier? Aus einem inneren Drang, sich zu verbessern? Oder weil er hofft, irgendwann alle Mechanismen der Welt zu verstehen, so dass er selbst die Macht an sich reißen kann?!

    Nein, für mich ist nicht die ethische Frage nach der Verwendung oder Verteilung von Wissen zuerst da. Sondern die Frage, was mich nach dem Wissenserwerb überhaupt treibt! Vielleicht sollte man erst dann auf die Suche nach Wissen gehen, wenn etwas NICHT MEHR FUNKTIONIERT?!"


    Sie lachte wieder und blinzelte vielsagend. Offenbar versuchte sie etwas anzudeuten, was sie nicht aussprechen wollte.

    "Aber bitte! Im Sinne der Elemente gibt es nichts, was über sie hinaus gefunden werden müsste! Allein der Gedanke ist mit dem Tod zu bestrafen! Das ist die EINE Ansicht.


    Die ANDERE Ansicht ist, dass sich die Welt in einer Spirale entwickelt. So wie die Elemente einmal zusammen, einmal getrennt sind, bewegen sich ihre Wesen einmal enger, einmal weiter entfernt von ihrem Ausgangspunkt - vorwärts. Was bedeuten würde, dass die schreckliche Jugend - hinausgeschleudert an den äußeren Rand der Spirale - nun überwunden werden muss! Die Phase des unzufriedenen Herumprobierens muss enden! Die nächste Phase, innere Phase - die des Erwachsenen - würde dann neue Schöpfung hervorbringen können - REIFE Schöpfung, gewollte Schöpfung. Und alle verdorbenen Förmchen würden zerstört werden. Was übrig bleibt, schwingt weiter und mit auf der Spirale.

    Auch diese zweite Ansicht ist elementgefälliges Denken, denn es unterstellt genauso, dass es nichts außer den Elementen geben kann!


    ABER die meisten Menschen sind so grundlegend VERBOHRT und festgefahren in ihren einfachen Erklärungen, dass du diese Theorie am besten mit niemandem außerhalb von Kjona besprichst!

    Schließlich wissen wir auch nicht, wie es wirklich ist! Wir befinden uns nicht im Sandkasten. Vielleicht sind die Weltenwächter darin - aber wer weiß!

    Es kann sein, dass wir irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, ob und in welcher Weise wir uns an der nächsten Phase der Schöpfung BETEILIGEN wollen... falls es aber von uns zu irgendeinem Zeitpunkt von der Welt selbst verlangt werden sollte, dürfen wir es aber NIEMALS auf die Weise der Kell´Goron oder der Verfemten versuchen!"

  • Der Pater schmunzelte ob der Spitzfindigkeit seiner Gastgeberin. „Wissenschaft schafft Wissen. Wissen führt zu Verständnis. Verständnis ist Basis vernünftigen Handelns. Ob das Verständnis aus wissenschaftlicher Arbeit oder aus einer Verbundenheit mit der Welt entspringt, macht da wenig Unterschied. Und wenn man handlungsfähig sein will, wenn erst einmal etwas nicht mehr funktioniert, dann fängt man mit dem Aufbau des Verständnissens besser vorher an. Idealerweise kann man handeln, bevor etwas nicht mehr funktioniert.

    Pater Richie blinzelte ebenso vielsagend zurück. „Ich nehme einmal an, dass der Aufbau einer Verbindung zu Terra durch die Völker dieses Kontinentes auch nicht erst begann, als man zu verhungern oder von Feinden überrannt zu werden drohte, nicht wahr?


    Die Diskussion über die Gefahr von Wissen kommt mir sehr bekannt vor. Meiner Erfahrung nach ist es nicht die Wissenschaft oder das gewonnene Wissen, von dem Gefahren ausgehen. Die Gefahr geht von Entscheidungen aus, die Individuen treffen, oft genug ohne das nötige Verständnis oder gar in Außerachtlassung desselben. Deshalb ist es der völlig falsche Weg, das Denken unter Strafe zu stellen. Wenn man Schaden abwenden will, muss man unbesonnenes Handeln unter Strafe stellen.

  • Diesen Gedanken auf die Zusammenhänge zwischen der ersten und der zweiten Schöpfung zu übertragen, fällt mir noch schwer. Wenn die Erschaffung der Verfehmten Elemente so etwas wie ein Experiment der Alten Herrscher war, das in furchtbarer Weise fehlschlug, dann würde ein Wissenschaftler nüchtern feststellen müssen, dass diese Experimente nicht hätten stattfinden dürfen. Denn offenbar fehlte das ausreichende Verständnis für die Materie.


    Auch könnte ich der Idee folgen, dass die Tiefe von Verständnis, die die Siedler jemals erringen könnten, noch weit hinter jener der Alten Herrscher zurück bleiben muss. Wenn dem so ist, sollten wir von Experimenten dieser Art umso mehr die Finger lassen.


    Für mich selbst muss ich sagen... ich hoffe, dass ich noch viele Gelegenheiten werde wahrnehmen können, um mein Wissen über und meine Verbundenheit mit den Elementen zu vertiefen, bevor ich in die Lage gerate, derartige Entscheidungen treffen zu müssen.

  • Die Elfe antwortete nicht auf das vielsagende Blinzeln des Paters. Er hatte einen Punkt berührt, den sie hartnäckig verteidigte - und der eigentlich überhaupt nicht zu verteidigen war - nämlich ob das Vorgehen von Nairas Volk besonders sinnvoll und klug gewesen war... Sicher, sie hatten überlebt! Aber das war, zusammen mit der speziellen Verbundenheit zur Welt, das einzige, für das sie sich rühmen konnten...


    Richard hatte noch so wenig von diesen Elfen gehört, und darum konnte er sich so respektvoll gegenüber dem Volk der Lethi geben. Hätte er geahnt, was die Lethi wirklich waren und wie sie gelebt hatten - zu was sich diese zugegebenermaßen sehr langlebigen und sehr dickköpfigen, überlebensfähigen Wesen ENTSCHIEDEN hatten - wäre es nicht bei einem Blinzeln geblieben!


    Aus Sicht der Menschen mussten die Lethi wie eine Art unterirdischer Pilz wirken. Naira hatte schon recht, wie sie die Einstellung zur Welt und die Selbstsicht der Lethi als "im Einklang mit allem" beschrieb - es änderte nichts an der Tatsache, dass die Lethi EXAKT das getan hatten, was der Pater lächelnd angedeutet hatten - sie HATTEN erst dann angefangen, sich neuem Wissen überhaupt zu öffnen, als sie auszusterben drohten!

    Dieses Volk lehnte sogar die Zeugung von Nachkommen als unzulässiges Verändern-Wollen ab!


    Naira ging wie gesagt über all das gern hinweg und wandte sich lieber dem anderen Thema zu...


    "Na, und was glaubst du, wird dieser Würfel mit sich bringen, den wir in der Burg gefunden haben? Dieser Umwandler? Meinst du, den wird nicht irgendwann irgendwer benutzen? Wir hatten das schon so oft! Wir finden Untersuchungsberichte - Anleitungen - Rezepte - und das wird alles schön durchgesehen und diskutiert und verwahrt, weil es viel zu gefährlich, elementlästerlich oder verfehmt wäre, es zu benutzen! Und dann! passiert irgendwann etwas, das es absolut unausweichlich macht, es doch zu benutzen! Und plötzlich wirkt das wie eine total tolle Idee! Oder noch öfter: Die einen diskutieren noch leise hinter vorgehaltener Hand, ob man das wirklich tun sollte - und die anderen haben bereits den Becher mit dem Blut in der Hand..."


    Sie schien an einen konkreten Becher zu denken - oh ja. Es war so oft passiert... gerade hier im Norden...

  • Eine seltsame Schwingung ging durch den Raum, die der Pater nicht recht zu deuten wusste. Naira schien ein weiteres Mal um das Thema herum zu tänzeln, wie die Amsel um den Wurm. Aber so waren die Traditionalisten. Präsentierte man ihnen ein stichhaltiges Argument, das ihren Standpunkt infrage stellte, dann musste man ihnen Zeit geben. Sie mussten von ihrem Berg herab steigen und einen neuen erklimmen. Denn ohne ihren Berg wurden sie schier ungenießbar. Wenn es um fundamentale Fragen ging, war er selbst auch nicht anders.


    Da habt Ihr wohl Recht. Zuweilen sehen wir uns durch aktuelle Herausforderungen genötigt, Wege einzuschlagen, die wir sonst niemals in Erwägung ziehen würden. Verzweiflung provoziert verzweifelte Taten. Auch sind wir uns in der Einschätzung einig, dass zuweilen eine solche Verzweifelte Lage eher herbei geredet wird, als dass sie bestünde. Und dass zuweilen auch Gefahren beschworen werden, um sonst inakzeptable Handlungen zu rechtfertigen. Dies geschieht in der Regel durch Emotionalisierung der Situation. Und es ist Aufgabe der Weisen, dem mit fundierter Versachlichung entgegen zu treten. Und es ist Aufgabe der Starken, dem Treiben Einhalt zu gebieten. Tragischerweise sind nicht immer beide Eigenschaften gleichzeitig im Raum, wenn fatale Entscheidungen getroffen werden.

  • Naira nickte und kicherte halb unterdrückt zu seinen letzten Worten.

    "Ja, die Weisen und die Starken... die Frage ist: WESSEN Weise und Starke... Sag mal, hast du dich eigentlich schonmal mit den Eisernen beschäftigt? Du interessierst dich so dafür, wie die Verfehmten in die Welt gehören oder nicht - hast du auch schonmal die Tivar Khar´Assil dir näher angeschaut? Höchst spannende Gruppe! Leute mit sehr besonderer Vergangenheit! Und aus ihrer Sicht heraus die EINZIGEN Weisen und Starken, die hier auf Mythodea das letzte Wort haben. Richter und Henker zugleich. Und dazu noch die größten Liebhaber."

  • Die Weisesten, die Stärksten und die größten Liebhaber? So so...“, schmunzelte der Pater. „Wenn ein junger Strauch allein auf einem weiten Feld steht, dann kann er sich womöglich für den stärksten Baum halten. Das soll vorkommen. Aber nein, mit den Eisernen habe ich mich nur sehr wenig beschäftigt. Aber ich sehe ein, dass man die Verfehmten wahrscheinlich besser versteht, wenn man weiß, wer gegen sie kämpft.

  • Was wissen wir über die Eisernen?“, sinnierte der Pater, der sich zu erinnern versuchte, was er in der Bibliothek der Entdecker darüber gelesen hatte. „Orphaliot, einer der Großen der Alten Herrscher, rief die Tivar Kharr‘Assil, den Orden der ewigen Schwerter, ins Leben. Der Orden war ein Werkzeug des Glaubens an die Elemente, Hüter der Kultur und Gerechtigkeit. Erst mit der Erschaffung der Ratio sandte Orphaliot sie als Armee gegen ebendiese aus... und sie verloren. Ohne den ‚Pakt der Neun‘ wären sie vollends vernichtet worden. Dies war alles zu Zeiten vor der Verbannung der Alten Herrscher und der Versiegelung der Verfehmten.“ Der Pater strich sich über den Bart, als würde ihm das helfen, sich zu erinnern. „Aus der Zeit der Wiederbesiedlung weiß ich leider herzlich wenig. Es scheint eine Auseinandersetzung zwischen den Naldar und dem Orden gegeben zu haben, in die beinahe der halbe Kontinent hinein gezogen wurde. Aber was den Orden eigentlich ausmachte, und was ihn heute ausmacht, das weiß ich nicht.

  • "Du wirst auf Mythodea nicht leben können, wenn du dich nicht ein wenig mit ihnen beschäftigst! Schließlich solltest du wissen, wer dich mit Misstrauen und Verachtung sieht, wenn du aufs Schlachtfeld gehst oder auch nur ein Stück Brot in Ruhe verzehren möchtest!


    Ich selbst wurde wirklich buchstäblich gezwungen, mitten im Kauen zu unterbrechen, weil sich einer von ihnen dermaßen reingesteigert hat, dass ich um mein Leben fürchten musste. Viele von ihnen sind irre und alle sind in hohem Maße aggressiv. Leider können sie sich das und alles andere auf diesem Kontinent herausnehmen! Sie haben mich angeschrien, bedroht, geschubst und gewürgt, ohne dass ich irgendetwas getan hätte - nur weil ich zufällig in der Nähe war!


    Ja, die Tivar Khar´Assil könnten auf diesem Kontinent JEDES Verbrechen an einem von uns begehen, jede Art von Gewalt und Unrecht, bis hin zum Mord, ohne dass jemand über sie richten würde!

    Tatsächlich würde man umgekehrt gegen DICH auf jeden Fall etwas zurechtkonstruieren können, wodurch ein solches Verbrechen gerechtfertigt würde!


    Ich sage damit nicht, DASS sie - abgesehen von der wiederholten, beiläufigen Gewalt gegen mich - solche Verbrechen tatsächlich begehen - ja, ich würde es nicht wagen, dir davon etwas zu sagen, wenn ich davon wüsste....
    aber es genügt zu warnen: Sie wissen so gut wie jeder andere, dass sie diesen Freibrief haben, auch wenn er nirgendwo geschrieben steht. Das ist die Schandes dieses Krieges, die Schmach des Kontinents! Der Grund, warum ich dieses Land niemals lieben werde, solange wir diese Verhältnisse erdulden müssen!"


    Naira hatte über diese Worte eine fernen und schmerzhaften Ausdruck angenommen. Sie SAH die unzähligen Situationen vor sich, über die sie erschrocken war.

    Und mit leiser Stimme fügte sie hinzu:


    "Verblendung... So wie die Leute von Selfiran - der Ring der Heiler - die gegen jedes Recht einen Gast an ihrem Tisch niederschnitten, dann mich und andere bedrohten, die sein Leben retten wollten, und sich schließlich einen Meter von seiner ausblutenden Leiche Möhren auf den Teller schaufelten... dieses Land macht zuweilen entsetzliche Monster aus denen, die der Überzeugung sind, grundsätzlich im Recht zu sein, weil sie `das Gute´ wollen..."