Eine Frage des Glaubens

  • Des Paters Mine hellte sich auf, als er merkte, dass das, was Naira sagte, in sein eigenes Weltbild hinein passte. „Dann ist es vielleicht nicht ganz richtig, von einem Kampf als ein bewusstes, kriegerisches Verhalten zwischen den Elementen zu sprechen. Eigentlich ist es mehr ein Wirken im Sinne eines Verstärkens oder Neutralisierens elementarer Effekte. Wasser löscht Feuer. Das ist keine willentliche Auseinandersetzung, sondern Folge eines Wirkens von Naturkräften. Folgt man diesem Gedanken, dann wäre Magica nicht anderes als das Lenken der elementaren Wirkungen hin zu einem gewünschten Resultat. Erst durch Magica entsteht Willenskraft. Und Willenskraft ist der Ursprung der Schöpfung. Würdet Ihr soweit mit mir übereinstimmen?

  • "Ich weiß es nicht!" erwiderte Naira. "Ich würde nicht so weit gehen, den Elementen jeden Willen abzusprechen. Die Frage ist nur: Wie können wir diesen Willen bewerten? Über nichts habe ich mir in den letzten Jahren so viele Gedanken gemacht wie darüber!"


    Sie lächelte nun das Fräulein Salbei an und sprach zu ihr.

    "Als ich hierher kam, haben mich viele kritisiert dafür, wie ich denke, spreche und mich kleide. Und wie ich die Welt sehe. Sie haben mir immer wieder gesagt, dass ich mich "einem Element anschließen" müsse. Ich sollte mich für eins entscheiden. Aber wie ich schon erklärt habe, ist das nicht der Weg meines Volkes. Es ist also eher... passiert. Terra hat mich zu sich gezogen. War das ein Wille, der Wille von Terra? Ich weiß es nicht. Vielleicht lag es daran, dass ich in den Terra-Anhängern etwas gespürt habe, das mir vertraut war!"


    Wieder blickte sie zum Pater.

    "Nehmen wir an, Terra vereint in sich die Kraft zu schützen und die Kraft zu zerstören. Zwischen Hüter und Jäger ist nur ein feiner Unterschied! Der Mensch Alnock, den ich kennengelernt habe, war mildherzig; er war ein Bauer, der seine Familie ernähren und in einem festen Haus schützen möchte!

    Alnock ist jetzt Steinvater, und Steinvaters Schwäche ist genau das: dass er nicht strafen möchte - Mitleid hat und noch an die Chance glaubt, jemanden auf den richtigen Weg zu führen!

    Er hat also seine menschliche Neigung, Terra auf diese Weise nachzueifern, DIESE schützende Seite von Terra zu betonen, mitgenommen in den Weltenrat."


    Erneut ging ihr Blick zu Fräulein Salbei, und mittlerweile konnte einem die Idee kommen, dass dieser Wechsel etwas mit dem Inhalt ihrer Worte zu tun hatte.

    "Aber sein Lehrer war anderer Natur, Fräulein Salbei! Er war ein Krieger. Das Schwache, das Falsche musste sterben - durch seine Hand. Und ich hatte das Gefühl, dass er Lust an der Gewalt und an seiner Macht hatte. Das war schon so gewesen, bevor Terra ihn zu sich nahm. Er war kein Bauer, sondern ein... ein Gesetzesbrecher gewesen.

    Aber wie Alnock hat er für Terra auf dem Schlachtfeld gestritten. Und er wusste mehr über dieses Element als Alnock - da bin ich mir sehr sicher.

    Ich frage mich: War seine Abneigung gegen Aeris, sein Begierde nach dem Zerschneiden und Erlegen ein Teil von Terra? Sozusagen der `dunkle´ Teil? Oder war es nur eine Facette seiner früheren menschlichen Existenz, die bloß durch Terra beruhigt, aber nicht getilgt werden konnte?

    Ich stelle mir manchmal vor... wie es gewesen wäre, wenn er statt Alnock aufgestiegen wäre zu den Sternen. Dann wäre SEIN Nachteil mit Sicherheit NICHT die Mildherzigkeit gewesen - sondern seine `Grobschlächtigkeit´, wenn man kein noch schlechteres Wort gebrauchen möchte! Er wäre vermutlich nicht `Steinvater´, sondern `Steinschmetterer´ oder so genannt worden!"


    Wieder sah sie den Pater an, als sie auf den mehr theoretischen Teil zurückkam:

    "Also ist das `Dunkel´ und das `Licht´ der Elemente für sich genommen moralisch neutral? Oder sogar - ohne eigenen Willen?! Machen erst wir Siedler, oder auch die Alten Herrscher, daraus etwas, das wir gutheißen oder verachten? Durch einen unabhängigen Willen vielleicht?! Von dieser Antwort hängt aus meiner Sicht ALLES auf Mythodea ab!"

  • Dem Fräulein Salbei lag diese Art der Diskussion wenig, wiewohl sie versuchte, ihr zu folgen. Eigentlich waren diese theoretischen Betrachtungen für sie zu abstrakt. Sie liebte das Anwendbare, das Greifbare. Auch mit einer Zuordnung zu einem Element hatte sie bisher nicht viel anfangen können. Auch für sich selbst nicht. Als Kräuterfrau hatte sie natürlich viel mit Dingen zu tun, die offenbar etwas mit Terra gemein hatten, aber damit erschöpfte es sich auch schon. Da sie nun aber angesprochen worden war, versuchte sie einen eigenen Gedanken einzubringen. "Ist das nicht grundsätzlich das Resultat eines Aufwachsens in einer Gemeinschaft, dass man eine Art des Denkens und eine Kultur kennen und verstehen lernt? Und es ist doch nur natürlich, dass man das, was man versteht und kennt, für sich annimmt und sich damit verbunden fühlt. Es dürfte selten passieren, dass ein Kind, das im Kreise Terras groß wird, sich später für Aeris oder Ignis entscheidet." Sie machte eine Pause und dachte kurz nach. "Die Geschichte des Steinvaters kann ich gut nachvollziehen.", fuhr sie dann fort. " Jede Stärke kann zur Schwäche werden und umgekehrt. Es sind dies wahrscheinlich eher alles Eigenschaften. Und wie Ihr sagtet, werden sie erst im Kontext des Betrachters zu einer Stärke oder zu einer Schwäche. Und auch dies kennen wir doch aus dem täglichen Leben. Was für den einen lebenswichtige Medizin ist, wirkt auf den anderen als tödliches Gift."

  • "Damit bestätigst du, dass Terra eine sogenannte `dunkle´ Seite hat und dass sie Leute damit anziehen kann, die aus einer `dunklen´ Kultur oder sowas kommen! Und ein Alter Herrscher konnte sich auf genau so eine Eigenschaft konzentrieren! Und damit aus seinem eigenen Willen heraus Dinge tun, die wir sehr kritisch sehen! Denn laut dem Pater kommt der Wille ja nicht von Terra! Das würde man dann also einen `Machtmissbrauch´ nennen in Bezug auf Elementarkraft, oder?!" rief das Spitzohr aus.

    Diese Dinge waren eigentlich so einfach und hunderte Male besprochen worden. Aber es war so wichtig, sie noch einmal klar auszusprechen. Es würde darüber entscheiden, was sie auf dem nächsten Feldzug taten!


    "Aber Fräulein Salbei - das ist auch nicht bloß Theorie. Es ist meine Geschichte, hier auf Mythodea. Alnock HAT gelebt! Alnock wird zu dieser Stunde hier von irgendwem angerufen als Steinvater! Unser Schicksal hier und das dieses Landes hängt davon ab, wie wir diese Zusammenhänge auffassen! Wen wir wie anrufen und wem wir glauben! Das ist der Kern des Konfliktes zwischen dem Norden, den ihr eure Heimat nennen wollt, und den anderen Siegeln! Der Grund, warum es nahezu unmöglich ist, mit den heutigen Tivar´Kharassil ein vernünftiges Wort zu wechseln!"


    Das Spitzohr sprang auf und gestikulierte aufgeregt.

    "Extremismus, Fundamentalismus, wohin man blickt! Hüben wie drüben!

    Und KEINER, KEINER, Fräulein Salbei, kann es einem logisch erklären! DAFÜR werden Leute hingerichtet, Fräulein Salbei!

    MEINE Vertraute, Creo Canis, ist geköpft worden! Meine Mutterfigur Mahrukkaa wurde zerhackt und gegessen!

    Der Pate meines Kindes, Sturmhart Eisenkeil, wurde gerichtet! Mein Bruder, Tarabas, ist zum Hochverräter geworden wegen dieser ganzen Widersprüchlichkeiten!

    Meine Vaterfigur Alnock wird von den einen als neue Gottheit verehrt und von den anderen als Götze verdammt!

    Und zu guter Letzt wollten sie mir mein Kind wegnehmen, weil einfach KEINER mehr weiß, wem man trauen kann! Weil man nicht mehr weiß, wer WER ist!

    Kein Gefährte, kein Freund ist noch, was er einmal gewesen zu sein scheint! Alles wird in Zweifel gezogen!

    Weil keiner weiß, wer aus freiem Willen handelt oder gesteuert wird - wer Recht hat oder das Richtige tut!

    Ich gebe euch einen Rat, wenn ihr überleben wollt: Schlagt euch auf eine Seite und haltet daran fest, bis ihr untergeht! Denn wahrscheinlich werden wir NIE, NIEMALS erfahren, was in Wahrheit auf diesem Kontinent passiert!"

  • "Ihr macht mir Angst", antwortete das Fräulein Salbei etwas erschrocken. "Und andererseits wundert mich auch nichts von dem, was Ihr sagt. Wir sind auf diesen Kontinent gekommen als Flüchtlinge. Man fiel über unser Kloster her und töte alle, die man finden konnte. Und es geschah unter dem Vorwand des rechten Glaubens. In Wirklichkeit war es ein Machtspiel zwischen machtbesessenen Klerikern. Pater Richie wird Euch das noch wesentlich besser erklären können als ich. Ich weiß nicht, was ich geglaubt habe. Ich weiß nicht, warum ich annahm, auf diesem Kontinent würde es anders zugehen als auf unserem. Wahrscheinlich wollte ich einfach glauben, dass ich hier in Sicherheit wäre vor solchen Idiotien. Aber der Egoismus der ... Sterblichen scheint überall der gleiche zu sein. Und wie überall, geht es auch hier wohl nicht um den Glauben. Es geht um die Deutungshoheit. Es geht um Einfluss auf das Denken. Es geht um Macht. Und wo Macht ist, da wird sie missbraucht. Auch das scheint ein Naturgesetz zu sein."

    Die junge Frau wirkte etwas verloren und resigniert. Aber in ihren Worten lag auch so etwas wie Trotz, als sie anschloss: "Aber ich will mich nicht für ein Seite der Macht entscheiden. Seht, Alchemie ist eine ganz einfache Sache. Sie gelingt, oder sie gelingt nicht. Man heilt oder eben nicht. Für mich gibt es keine Deutungshoheit. Es gibt nur die Wirklichkeit. Und in Fällen, da wir die Wirklichkeit nicht kennen, hat ein jeder seine eigene Wahrheit. Und jede Wahrheit ist wahr im Auge des Betrachters. Es hat keinen Sinn, sich über Wahrheiten zu streiten. Man kann nur nach der Wirklichkeit suchen. Nach einem Rezept, das gelingt. Das kann bedeuten, dass man seine eigene Wahrheit verbergen muss. Außerhalb unseres Klosters wäre ich als Hexe verbrannt worden, nur weil ich mit Kräutern heilen konnte. Das bin ich gewohnt. Ich werde so lange nach einer Heimat suchen, bis ich eine finde, in der dieser Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit verstanden wird und man mich mit anderer Leute Wahrheiten verschont. Ich hoffe inständig, dass dies hier ein solcher Ort ist. Ich würde es nicht ertragen, mein ganzes Leben auf der Flucht sein zu müssen."

  • Der Pater war sichtlich ergriffen von den emotionalen Worten seines Mündels. Und insgeheim war er ein wenig stolz, dass seine Erziehungsbemühungen geholfen hatten, eine solche Weisheit hervor zu bringen. In der Tat hätte auch der helle Kopf seines Mentors, des Klosterbibliothekars, es nicht besser auf den Punkt bringen können was sie beide fühlten, seit sie sich gemeinsam vor den Mördern der Krone in Sicherheit bringen mussten.

    "Ich stimme meinem Mündel unbedingt zu", sagte der Pater, als das Fräulein Salbei ausgesprochen hatte, "und was die Entscheidung für eine Heimat angeht, so ist dem nichts hinzuzufügen."

    Er machte eine Pause.

    "Was die Wirklichkeit der Elemente angeht, wenn ich darauf zurück kommen darf... auch hier scheinen wir uns alle einig zu sein. Gut und böse liegen stets im Auge des Betrachters und sind Ergebnis einer Bewertung. Die Messlatte ist individuell subjektiv und für jeden Betrachter unterschiedlich. Dass das Zerstören Terras ein dunkler Aspekt ist, liegt doch daran, dass wir dem Tod eine gewisse Reserviertheit entgegen bringen. Und wen würde es wundern, schließlich geht es um unsere Existenz. Ihr sagtet es selbst: Aus der ungefilterten Sicht Terras ist Werden und Vergehen Teil des Kreislaufes, den wir Leben nennen. Daran ist nicht Gutes und auch nichts Schlechtes."


    "Lasst mich ein Gedankenexperiment anstellen:", schlug der Pater vor. "Nehmen wir einmal an, es wäre so, dass die Naturelemente die Prinzipien des Universums darstellen und als solche keinen -- für uns erkennbaren -- Willen ausüben. Stattdessen wirken sie, wie es ihrer Natur entspricht. Nehmen wir weiter an, dass Magica die Gesetzmäßigkeiten zusammenfasst, die dieses Wirken beschreibt. Quasi der Bauplan und die Verfahrensanleitung, wie die Elemente wirken. Wenn man nun Magica zur Gänze verstanden hätte, also erfassen könnte, wie sich die Elemente zueinander verhalten und wie sie wirken, dann könnte man mit diesem Wissen bewusst die Kräfte der Element nutzbar machen. Man könnte gestalten. Man könnte Aeris gegen Terra nutzen. Man könnte zerstören. Man könnte schöpfen." Der Pater versuchte, sich nicht all zu sehr selbst für seine Theorie zu begeistern. "Wenn nun die Quihen Assil zu uns kamen als solche, die Magica verstanden hatten. Und es steht geschrieben, dass mit den Quihen Assil Magica als fünftes Element in die Welt kam. Wenn sie also in der Lage waren, die Elemente nach ihrem Willen zu nutzen, dann müssen sie in der Tat in der Lage gewesen sein, die Erde zu erschaffen. Und auch, dass sie jeweils nur Aspekte der Elemente vertreten, passt zu dieser Theorie. Es würde bedeuten, dass auch die Quihen Assil entweder nur einen Teil Magicas verstehen, oder nur einen Teil davon vorzugsweise nutzen." Der Pater sah Naira an, als er weiter sprach. "In meiner Welt wären Menschen für weniger unvorsichtige Reden als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Ich aber bin zuallererst Gelehrter und kein dogmatischer Kleriker. Ich kann nicht sagen, ob diese Theorie stichhaltig ist. Aber in sich scheint sie zunächst widerspruchsfrei. Und sie scheint mir als Hypothese geeignet, um die Mystik Mythodeas zu verstehen. Jedenfalls so lange, bis ich einen Widerspruch entdecke. Für mich als Person bedeutet sie außerdem, was es heißt Magier zu sein. Es heißt, den Bauplan und das Wirkprinzip der Element zu verstehen und nutzbar zu machen."


    "Und wie mein Mündel bereits sagte: dies ist zunächst meine Wahrheit, mein Bild von der Wirklichkeit, und ich kann sie notfalls auch für mich behalten."

  • Naira presste die Lippen aufeinander, nickte aber zur Rede des Paters, während ihre Blicke immer wieder zum erhitzten Fräulein Salbei gingen.

    Wie gern sie ihr etwas sehr Wichtiges, sehr Persönliches erzählt hätte! Aber das war nicht der Ort - nicht die Gesellschaft dafür!


    "Gut, wenn du es so siehst, dann bleibt jetzt als nächste Frage: Wie sind die Verfemten zu bewerten?"

    Doch sie hob kurz die Hand, um anzudeuten, dass sie noch nicht fertig war.

    "Fräulein Salbei - ist Salbei eigentlich dein Vorname? - das mit der Alchemie ist eine heikle und ganz und gar nicht einfache Sache auf diesem Kontinent! Ich könnte dir eine Reihe von Tränken nennen, die wirken und die man brauen kann und darf! Die sogar gebraucht wurden, DRINGEND! Und trotzdem musste ich dafür sorgen, dass niemand erfuhr, dass ICH sie gebraut habe! Ich habe lieber Belohnungen und Anerkennungen vorbeiziehen lassen, nur um diese Sicherheit zu haben! Sogar den Lohn der Avatare von Magica und Terra habe ich ausgeschlagen und sie damit vielleicht sogar erzürnt. Aber nur weil etwas wirkt und sogar für die richtige Sache eingesetzt wird, heißt noch nicht, dass sie dich nicht hinrichten würden! Lies dir nur die Schriften durch, die wir auf der Burg Tannesang gefunden haben! Und da gibt es noch ganz andere... Bitte denk immer daran: Sobald du etwas für Alchemie verwendest, das Andere für potenziell gefährlich, verfemt oder zu wertvoll für dich finden, oder sobald du Alchemie für jemanden oder etwas einsetzt, das Andere mit Misstrauen betrachten - können sie dir dafür den Strick drehen! HABEN sie bereits großen Frauen gedreht, die Gutes taten und vom Licht dieser Welt erfüllt waren! Viele haben Angst vor der Alchemie - viel mehr als vor der Magie! Und dafür sind sie bereit, dich als Paktiererin zu vernichten!"

  • Wie gesagt, es ist eine Hypothese. Und also solche bestimmt nicht die letzte. Ihr lasse mich aber gerne von Eurer Sicht überzeugen, wenn Ihr die Dinge anders seht. Dazu bin ich schließlich hergekommen.“ Antwortete der Pater freundlich. Er war sich nicht sicher, ob das Konzept der Axiomatik und der Modellbildung mithilfe von Arbeitshypothesen in diesem Teil der Welt verbreitet war.

  • "Nein, nein! Ich höre gerne deine Hypothesen! Viele kleine Kiesel ergeben ein Bild!" sagte Naira freundlich, da sie bemerkte, wie sich der Pater zurückzuziehen begann.


    "Ich wollte doch nur wissen, was du von dem schwarzen Quihen Assil denkst! In der letzten Zeit habe ich oft an diese Geschichte gedacht! An den Glanz Magicas, den ich in den Tiefen gesehen habe! Im Süden, dort wo der goldene Quihen Assil in die Erde eingeschlagen ist! Ich frage mich bis heute immer wieder - warum hegen diejenigen, die den vier anderen Elementen verbunden sind, eine solche Abneigung gegen Magica? Wie passt es zusammen? Ich verstehe es nicht, weißt du!"

  • Ich weiß leider noch viel zu wenig über die verschiedene Lager der Siedler, um hier mitreden zu können. Ich könnte mir aber vorstellen...“ Der Pater schüttelte den Kopf. „Nein, es hat wenig Sinn zu spekulieren. Meine Erfahrung sagt mir aber, dass es sich um eine politische Frage handelt, nicht um eine des Glaubens. Was die Geschichte der zwei gefallenen Kinder des Goldenen Traumes angeht, so müsste ich sie vielleicht noch einmal lesen. Mein Gedächtnis ist da leider wenig zuverlässig.

  • "Mir geht es ähnlich! Ich weiß, dass ich in jener Nacht noch mehr gewusst habe als heute! Es war nicht nur der Text. Wir haben darüber gesprochen und mir kam eine sehr, sehr wichtige Erkenntnis, was der Text bedeutet! Ich muss noch einmal mit Zarim sprechen... er beschäftigt sich mit solchen Sachen viel mehr. Ich selbst... ich bin keine große Theoretikerin oder Forscherin!


    Ich ERFÜHLE die Dinge und ich versuche sie auf MICH zu beziehen, um sie zu verstehen!

    Alles, was ich von Mythodea kenne, sind die Gefühle der Personen, die ich getroffen habe.

    Ich versuche, von ihren GEFÜHLEN aus die Zusammenhänge zu begreifen.


    Die Menschen haben eine andere Weise, um Wissen aufzunehmen. Sie denken nicht darüber nach, wie die Elemente oder die Quihen Assil in ihrem Bauch entscheiden!

    Ich bin aber kein Mensch. Mein Volk hat keine Bücher geschrieben.


    Es gibt keine rationalen Entscheidungen bei uns... wir lassen die Dinge geschehen und wir erklären uns die Welt darüber, was andere geschehen lassen...


    Kannst du dir das vorstellen?"


    Noch nie hatte sie so deutlich erklärt, wie ihre Sichtweise und ihre Handlungen zustande kamen! Die Uruks waren ihr ähnlich und auch einige Drow, in dieser starken Betonung der Gefühle.

    Aber die Menschen... an den Menschen verzweifelte Naira und sie umgekehrt mit ihr...

  • Oh, Ihr würdet vielen Menschen Unrecht tun, wenn Ihr sie allesamt als Theoretiker betrachtetet. Mein Mentor unterschied grundsätzlich drei Typen von Menschen: die Traditionalisten, die aus der Tradition und vor allem aus der Kultur ihres Volkes heraus agieren, die Pragmatiker, die aus der Gegenwart und aus dem Vorteil für sich und ihre Gruppe denken, und die Theoretiker, die eine Vision verfolgen und sich oft nicht viel um andere scheren. Ich persönlich würde noch einen vierten Typus hinzufügen: den Generalisten, der von allen drei Kategorien mehr oder minder gleichgewichtig geprägt ist.

    Ich meine, die Traditionalisten kämen Eurer Art zu fühlen am nächsten. Mit Ihnen würdet Ihr Euch wahrscheinlich verstehen. Dass Ihr an den Pragmatikern verzweifelt und zu den Theoretikern keinen Zugang findet, dass kann ich mir gut vorstellen.

    Allerdings glaube ich auch, dass jede Art zu denken oder zu fühlen einer gewissen Beschränktheit unterliegt, wenn es darum geht, das Große Ganze zu erfassen. Es ist wie ein Baum, von denen die einen die Krone beschreiben und die anderen die Wurzel erspüren können. Wenn sich die verschieden Typen zusammentäten, um die Welt gemeinsam zu begreifen, dann könnten sie große Fortschritte machen.

  • Naira nickte und dachte eine Weile über die Worte des Paters nach.


    "Meine Wurzeln sind fest und ewig, im Dunkeln. Verbunden mit anderen, auch wenn sie nicht hier sind! Vielleicht haben wir uns zu lange nicht gesehen, dass es mir manchmal nicht wichtig genug erscheint - diese Wurzeln zu haben.

    Vielleicht sollte ich in Zukunft auch danach schauen, noch mehr zu finden, die ebenfalls über ihre Wurzeln die Welt erfühlen.

    Ich habe aufgehört, sie zu suchen, als Khenai kam...

    Aber die Krone der Bäume, wie du sagst - Alnock war mein Baum. Und da wächst jetzt nichts mehr. Seine Äste sind im Himmel verschwunden und seitdem das so ist, fühle ich, dass ich keine Bedeutung mehr für diesen Baum habe!

    Steinvater sieht anders, denkt anders. Vermutlich ist ihm JEDER recht, der ihn anruft.

    Vermutlich war ich auch für Alnock nur ein Eichhörnchen, wie er es mal ausgedrückt hat. Ich habe ihm abverlangt, sich mit mir zu beschäftigen, aber er selbst hatte nichts davon.

    Ich kann seitdem nicht mehr sehen, was über der Erde, auf der Oberfläche der Welt passiert!

    Mein Gefühl ist so schwer und tief geworden - vielleicht ist das Terra, die mich weiter zu sich zieht!

    Vielleicht sind es die Tiefen der Tunnel."


    Sie seufzte.

    "Ich würde gerne mehr sehen. Den Baum und den Himmel. Es ist bloß so schwer für mich, weil die, die Baum und Himmel sehen, keinen langen Bestand hatten auf Mythodea.

    Sie sind fort, alle. Ich würde hier nicht so leben, wenn sie noch in meinem Leben wären!"

  • Hatte ich eigentlich einen richtigen Namen, bevor Ihr mich ins Kloster mitnahmt, Pater Richie?“, fragte die Kräuterfrau. Die Frage kam in jeder Hinsicht unerwartet, und auch der abwesend melancholische Tonfall der jungen Frau war überraschend. Der Pater sah sie erstaunt an, aber aus seiner Mine sprach Milde und Mitleid, als er antwortete: „Nein, das alte Kräuterweib nannte Dich immer nur die Göre. Das war mit ein Grund, weshalb ich beschloss, Dich mitzunehmen. Beim Alchemisten hast Du Dir dann sehr schnell einen Ruf in Sachen Heilkräutern gemacht, und insbesondere Deine Salbeipastillen waren der große Renner. Auch über die Klostermauern hinaus. Und bevor wir Dir einen Namen geben konnten, hattest Du Dir einen erworben.“ Es geschah nicht oft, dass der Pater so direkt mit ihr sprach, seit das Fräulein Salbei zu einer jungen Frau herangewachsen war. Jetzt aber sah er das kleine, zerlumpte Mädchen vor seinen Augen, das unter der Theke des Kräuterweibes saß und darauf wartete, mit einem Fußtritt zu irgendwelchen Erledigungen losgescheucht zu werden. Schon damals hatte sie die allermeisten Rezepte selbst herstellen können, da das alte Weib fast nichts mehr sah. Er hatte unendliches Mitleid mit dem armen Ding gehabt und es dem Kräuterweib kurzerhand abgekauft. Heute war sie eine erwachsene Frau, die lesen und schreiben konnte, einen wachen Verstand und einiges an Bildung besaß und ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten konnte. „Aber nichts hält Dich davon ab, Dir einen Namen auszusuchen, mit dem wir Dich zukünftig rufen sollen“, schloss der Pater. Das Fräulein Salbei aber schüttelte den Kopf. „Vielleicht später einmal“, sagte sie gedankenverloren, „wenn ich eine andere geworden bin.“ Der Pater sah sie erstaunt an, aber sie schien mit ihren Gedanken in weite Ferne gerückt zu sein.

  • Das weiß ich nicht“, erwiderte die junge Frau, „das alte Weib schimpfte regelmäßig, ich solle froh sein, dass sie mich genommen habe. Als ich älter wurde und schon im Kloster lebte, ging ich einmal zu ihr, um sie danach zu fragen. Aber da war sie bereits gestorben. Aber das ist auch nicht mehr wichtig. Wenn ich je Eltern gehabt haben sollte, kann ich mich nicht mehr an sie erinnern.“ Ihre Stimme klang gefasst, aber man sah ihr an, dass es vielleicht doch nicht so belanglos war, wie sie sagte.

  • "Vielleicht war sie ja deine Großmutter! Welchen Grund sollte sie sonst gehabt haben, dich aufzunehmen, wenn du ihr am Anfang nichts genutzt hast? Alle Zieheltern nehmen einen ja nur auf, wenn sie denken, dass sie etwas davon haben! Nur Familie belastet sich mit denen, die nur nehmen und nicht geben! Das ist meine Erfahrung damit. Sie war bestimmt zumindest irgendeine Verwandte oder schuldete deinen Eltern sonstwie etwas." sagte Naira mit einem Schulternzucken.


    Aber ihr Blick war durchaus mitleidig. Die eigenen Eltern nicht einmal zu KENNEN...


    "ICH kannte meine Eltern wenigstens..." sprach sie ihren Gedanken aus. "Und Khenai kennt zumindest mich. Auch wenn ihm das zur Zeit weniger wichtig zu sein scheint. Aber wenn man heranwächst, gibt es eine Zeit, in der man versucht, den eigenen Weg zu gehen. Was ist deiner, Salber?"

  • "Na, anscheinend folgt Salbei ja nicht den Traditionen ihrer Eltern und auch nicht ihren Ansichten! Sie ist auf der Jagd nach ihrem eigenen Weg - oder sie hat ihn schon gefunden. Alchimistin ist sie geworden, weil es sich angeboten hat. Ich frage mich: Was hast du jetzt vor, Salbei? Du kannst inzwischen selber entsheiden, oder? Oder entscheidet der Pater?"

  • Der Pater verstand jetzt, worauf sie hinaus wollte. Und wer sollte Eurer Meinung nach stattdessen entscheiden? Ihr, Naira?“ fragte der Pater mit einem freundlichem Lächeln zurück. „Meine liebe, sie konnte schon immer selbst entscheiden. Als sie zu uns ins Kloster kam, hat sie sich die Kräuterküche selbst ausgesucht. So wie sich ein jeder seine Profession selbst aussucht, wenn er sich entschließt, im Kloster zu leben. Und natürlich lag es nahe, die Kräuterkunde weiter zu verfolgen, sie war ja bereits besser ausgebildet als viele der Brüder und Schwestern, die dort bereits arbeiteten. Ich selbst bestimme da nicht viel. Gegewärtig sind wir zusammen auf diesem Kontinent unterwegs, weil wir die einzigen Überlebenden unseres Ordens sind und seit unserer Flucht aufeinander Acht geben. Das ist der Beginn einer Entwicklung. Für uns beide. Und es wäre... angemessen, wenn Ihr diese Entwicklung zunächst beobachtetet, bevor Ihr sie... beurteilt.“ Den letzten Satz hatte der Pater bewusst gesetzt und mit einer immer noch freundlichen, aber bestimmten Mine begleitet.