Es begann mit einem Lächeln.
Natürlich hatte Alles schon viel früher begonnen: Schleichender, unscheinbarer, im Dunklen verborgen.
Wind peitschte Regen durch die Gassen der Stadt. Exilia lag am Nördlichsten Punkt der Steilküste, wo sich die raue See beständig gegen den Fels warf. Herbststürme waren hier keine Seltenheit. Die Siedler hatten sich an die harten Verhältnisse gewöhnt: In soliden Häusern aus Stein brannte stets ein wärmendes Feuer.
Av'Sha war schon seit den frühen Morgenstunden auf den Beinen. Sie war eine hochgewachsene Frau, gewohnt mit anzupacken, streng aber nicht herzlos. Unter Kire Schattenhaar, dem ersten Protektor und Gründer des Protektorats, kam sie, vertrieben aus der alten Welt, mit den Ersten nach Exilia. Hier fand sie eine neue Heimat und wurde zu einer angesehenen Person.
Als Verwalterin des Lagers musste sie sich darum kümmern die Versorgung der Stadt zu gewährleisten. Anders als in anderen Protektoraten des Nordens gab es in Exilia keinen Lohn von dem man sich hätte etwas zu Essen kaufen können. Stattdessen arbeitete man für Essen und einem Dach über dem Kopf – sämtliche erwirtschaftete Produkte fielen dem Protektorat zu, im Gegenzug erhielt jeder Siedler Exilias genügend Nahrungsmittel, eine solide Unterkunft und wurde mit alltäglichen Gütern versorgt. Dieses System, wenn auch gewöhnungsbedürftig, sorgte in der Vergangenheit für einen starke Gemeinschaft innerhalb der Stadtmauern. Niemand musste Hunger leiden. Jeder erhielt das, was ihm zustand.
Die diesjährige Ernte war reichlich gewesen und so waren die Lagerräume gut gefüllt. Vor wenigen Tagen war eine Karawane, beladen mit Fleisch und Getreide, nach Raetien aufgebrochen. Begleitet wurden die Wagen von schwer gerüsteten Larkreitern – trotz der regelmäßigen Patrouillen waren die Straßen des Nordens nicht sicher, schon gar nicht zu dieser Jahreszeit, wo Räuberbanden das eisige Wetter zu spüren bekamen.
Innerhalb der starken Mauern Exilias fühlten sich die Siedler jedoch sicher.
Ein Junge, nicht älter als elf oder zwölf Jahren, stand hinter dem großen hölzernen Tresen, der den Zugang zum Lager von dem Raum der Warenausgabe teilte. Er konnte noch nicht allzu lange hier in der Siedlung sein, dachte Av'Sha. Die dünnen Arme und leicht eingefallenen Wangen sprachen von der entbehrlichen Reise, die der Junge hinter sich haben musste. Seine Schuhe hatten Löcher und seine Kleidung war ausgetragen, noch dazu viel zu dünn für die Jahreszeit. Außerdem – so stellte sie missmutig fest - wanderte sein nervöser Blick ständig hinauf zur ihrem Haaransatz. Jeder Exilant wusste, dass es besser war Av'Sha nicht auf die Hörner anzusprechen, welche ihr über der Stirn wuchsen. Zwei Spitzen ragten aus ihrem dunklen Haar heraus und zeugten von ihrer nicht-vollkommen-menschlichen Herkunft. Es gab Dinge über die man in Exilia besser nicht redete oder zumindest nicht auf den Straßen.
Ungeduldig wartete sie bis der Junge seine Stimme wiedergefunden hatte.
„Wir brauchen was extra.“, sagte er zögerlich.
„Es gibt keine Extrarationen. Wer bist du? Woher kommst du?“, fragte sie eine Spur zu streng.
Der Junge schluckte. „Ich bin Harald. Mein Vater ist Jakob Topfmacher. Wir sind erst seit ein paar Wochen hier.“ Er war also, wie sie vermutet hatte, mit der kleinen Gruppe neuer Siedler gekommen, die trotz der widrigen Umstände den Weg nach Exilia gefunden hatte. Ein Aufruf in den Häfen der Alten Welt, der den Leuten Arbeit und eine sichere Unterkunft versprach, hatte im vergangenen Jahr gehäuft zu Neuzugängen geführt. Nun, da der Sommer vorbei war, wählten nur noch Wenige die Straße nach Norden und wandten sich lieber gen Süden Richtung der Freienmark oder dem Reich der Rosen zu.
Av'Sha nahm eines der ledergebundenen Bücher zur Hand, schlug es auf und fuhr mit dem Finger über die mit Tinte geschriebenen Lettern. Sie stoppte bei dem Namen „Topfmacher, Jakob“ und untersuchte die dort eingetragenen Vermerke. Geräucherter Fisch, Rothfleischwurst, Butter, Marken für Brot, … Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Eure Familie hat erst vor ein paar Tagen die ihr zustehenden Güter erhalten. Außerdem, so wurde hier vermerkt, habt ihr als Neuankömmlinge noch einen Zuschlag erhalten. Das könnt ihr doch unmöglich schon verbraucht haben.“ Jeder neue Siedler wurde bei seiner Aufnahme in die Gemeinschaft geprüft und in den hier geltenden Gesetzen unterwiesen. Hortung von protektoralen Gütern stand unter Strafe. „Hortung von Lebensmitteln oder anderer Güter des Protektorats werden hier streng bestraft.“, es klang gebetsmühlenartig.
Viele der Neuankömmlinge versuchten anfangs den ihnen zustehenden Rationen noch etwas hinzuzufügen. Die Meisten begriffen schnell, dass es keinen Sinn hatte darum zu betteln, zumal tatsächlich darauf geachtet wurde, dass jeder Siedler genügend zu Essen erhielt.
Dieser Junge war anders. Er brach in Tränen aus, sprach von Prügel, die er von seinem Vater zu erwarten habe, von dem Tod seiner Mutter und die lange, beschwerliche Reise in den Norden. Und – und das war das eigentlich Erstaunliche - er schaffte es Av'Sha eine Extraration zu entlocken.
Gierig griffen seine dünnen Finger nach den Lebensmitteln. Als er sich abwendete lächelte er. Er lächelte nicht aus Freude darüber in den kommenden Tagen nicht hungern zu müssen, sondern aus einem anderen Grund.
Es war dieses Lächeln mit dem es begann, obwohl natürlich Alles schon viel früher begonnen hatte: Schleichender, unscheinbarer, im Dunklen verborgen.