Der gute Drow

"Das ist schlecht für sie, denn dadurch werden sie schwach!", nickte das Spitzohr. "Ich persönlich finde es am schlimmsten, wenn man nicht nachfragen darf! Alles soll man glauben, immer nur glauben! Nachfragen ist verboten, weil sie Angst haben, sich erklären zu müssen. Stattdessen fuchteln sie gleich wieder mit Drohungen herum und wer alles auf ihrer Seite steht! Am Ende ist es immer irgendeine Gottheit, das Ende aller Weisheit."
Sie lachte und stieß ihre Füße spielerisch in den Schnee.
"Weißt du, am lustigsten ist es, wie sie immer herumjammern über ihr Dasein, das sie sich doch selbst geschaffen haben! Immerzu dieses Geleide, und dann müssen die Vertrauten kommen und besorgt gucken! Und man darf nicht hingehen, weil alles sooo wichtig ist! Und wenn man wagt zu sagen, dass das ein ziemlich schwaches Bild ist, und dass man sich kaum vorstellen kann, wie man mit der Haltung Kriege gewinnen möchte - dann hetzen sie alles auf dich, was sie haben! Ta! Leiden ist fast dasselbe wie Glauben auf Mythodea!"
Die Lethi schnaubte ironisch.

Das Spitzohr lachte sarkastisch auf. "Nein! Ich weiß schon, warum sich mein Volk nie mischen wollte!"
Sie schüttelte den Kopf.
"Ich bin geschaffen und erzogen worden, um die Wahrheit zu suchen. Und das Wissen weiterzugeben. Wir Lethi versuchen die Welt zu erfassen und auf dem Strom zu treiben. Wir bauen keine Schiffe, wir beherrschen nicht die Ebenen! Wir mischen keine Schwäche unter uns. Sich zu belügen ist schwach! Sich als Diener zu verstehen ist schwach! Wir sind IM Strom, wir versuchen uns nicht festzuhalten am Rand!... Vielleicht macht es das so unnötig, irgendeinen Glauben zu bezeugen. Weil wir ohnehin Teil des Ganzen SIND."

Die Lethi blickte hinauf in den schneewolkenverhangenen, dunklen Himmel.
"Ja, das ist es wohl. Die Menschen beten den Strom an und schöpfen daraus, aber sie werden nicht eins damit. Sie rufen Elemente herbei und wollen teilhaftig sein, aber sie sind nicht eins damit. Und ich glaube, wenn die Drow das verstehen würden, würden sie die Magie wiederfinden, die sie suchen. Denn alles ist immer noch IN ihnen. Die Drow sind im Gegensatz zu den Menschen nie dem Strom verlorengegangen."
Sie blickte zu ihm hinauf.
"Was auch immer sonst mit Eurem Volk passiert sein mag - ich sehe, dass ihr ebenfalls im Strom seid, nicht am Rand. Ihr seid nicht wie die ängstlichen Menschen, die sich nicht preisgeben wollen! Aber es ist ein Fehler, Schiffe bauen zu wollen, weißt du! Das haben die anderen Hochelfen getan, und es war ihr Untergang! Das sollte man nicht versuchen, sich der Macht bedienen zu wollen, aber nicht mehr davon beeinflusst zu werden..."
Das Spitzohr schüttelte wieder halb verwundert, halb belustigt den Kopf.

"Mhm, genau!", sagte das Spitzohr, begeistert darüber, dass er Bilder fand.
"Wie oft sieht man denn in Wahrheit auf seine Füße, um laufen zu können? Die Augen setzen nur das Ziel. Die Füße können von alleine gehen. Vielleicht habt Ihr mehr gesagt, als Ihr meintet, Tarabas! Vielleicht ist das Ziel abhanden gekommen, nicht die Fähigkeit zu gehen. Und deswegen verwirren sich die Füße... Was blendet denn den Läufer? Sind sie wirklich nie geheilt? Oder ist es die Erinnerung, dass die Augen einen Unfall erlitten haben? Schont der Läufer sie?"

Naira dachte an all die Verletzten, die sie in den Kriegen betreut hatte. Nur wer bereit und fähig war, eine Verletzung abzuschließen, konnte wirklich heilen.
Da halfen sonst auch keine Zauber oder Heiltränke! Höchstens noch das neue Spiel, das sie mit Kaa-Ash gespielt hatte und das sie Gwo beigebracht hatte... aber das war letztlich nur eine Form davon, in einem Wesen dessen eigenen Magie wieder zu wecken.

Ihre Stimme wurde nachdenklich.
"Ich weiß, dass manche Drow sehr zornig sind darüber, was sie ertragen mussten. Das ist Stärke, dieser Zorn! Aber manche fühlen sich auch sehr verletzt, sie klagen wie die Menschen und versuchen ihre Augen nicht zu öffnen aus Angst, dass sie wieder verletzt werden könnten. Deshalb reizt Naira sie... Etwas regt sich dann, es bläht sich auf und brüllt! Und wenn es gegen Naira tobt, ist die Schwäche fort. Der Läufer geht wieder auf seinen eigenen Füßen."

"Und was möchtet Ihr ihnen zeigen? Wollt Ihr auch, dass die Stärke zurückkommt? Wofür wurdet Ihr von Euren Eltern erschaffen?"
Naira war wieder vergnügt.
Der Tarabas schien auf einem sehr ähnlichen Weg wie sie zu sein!

"Haben sie das bedauert?", wollte sie wissen. "`Gefallen´ klingt so, als wollten sie es selbst nicht. Wollten sie, dass du wieder raufgehst zum Licht?"

Creo fiel ihr unwillkürlich ein, und wie man das Licht verlieren konnte.
Sie hatte noch keine Zeit gefunden, eingehend über das nachzudenken, was mit Creo geschehen war. Nur eine Frage war ganz kurz am Horizont ihrer Gedanken aufgetaucht:
Warum hatte sie Creo zu ihrem Licht gemacht?
Sie hatte es nie in Frage gestellt, dass es Creo zu folgen galt, da in ihr alles so golden war.
Aber was, wenn sie einfach nur eine Menschenfrau war, wie Creo vor einigen Stunden selbst gesagt hatte?
Naira war damals ein Welpe gewesen, und so, wie sie gegenüber ihre Finsternis nun seltsame Gefühle hegte, war es auch bei ihrem Licht.

"Du bist also ein Lehrer", stellte die Lethi fest. "Wer hat DICH gelehrt? Und unterrichtest du nur Drow? Ist die Kashalee auch deine Schülerin?"

Das Spitzohr biss sich auf die Zunge. Sie hatte immer noch nicht gelernt, nur eine Frage zu stellen. Die Dinge erschienen ihr immer so zusammenhängend und die Sprache der Menschen gestattete ihr so wenig Spielraum in der Bedeutung, dass sie selbst merkte, oft unwillkürlich Satz an Satz zu reihen.

"Hmmm", sagte das Spitzohr.
Sie hatte das Problem mit der Bezeichnung bei den Drow ja schon selbst festgestellt.

"Wie würdest du als Drow das bezeichnen, was ICH mache? Weißt du, nachdem ich sowieso schon als ganzes Wesen von vielen Drow abgelehnt werde, fällt es mir schwer, die richtigen Worte zu finden, was MEINE Rolle ist. Lethi-Bilder verstehen sie falsch, offenbar. Sicher wieder irgendwas aus der Vergangenheit mit den bösen Hochelfen."

"Hmmm...", machte die Lethi und kräuselte die Nase. So richtig suchend empfand sie sich nicht. Na gut, sie war immer noch auf der Suche nach dem anderen Wesen, das dort draußen herumlief und alle Fragen liefern würde - aber das musste man dem Tarabas ja nicht auf die Nase binden! Das war eine Familienangelegenheit. Es war besser, dazu nichts zu sagen.

Tief in ihrem Inneren spürte das Spitzohr, was passieren - was sie selbst denken und fühlen und vor allem TUN würde, wenn ihre Suche abgeschlossen sein würde.
Sie war sich nicht sicher, wie nah sie dem Anderen schon war. Etwas im Finstern lockte, und sie wusste nicht, ob das einfach nur der Wunsch war, Vergangenes abzuschließen - oder ob sie sich dorthin wenden musste, damit sie ihn finden und es losgehen konnte...
Für den Moment jedoch beschloss sie, bei den guten, freundlichen, leichtgläubigen und einfach gestrickten Wesen zu bleiben, die noch nach Licht und Kreislauf strebten!

"DAS hat mich schon immer erstaunt!", sagte sie nach einer Weile, abrupt aus ihren Überlegungen auftauchend.
"Dass man über bestimmte Sachen nicht mehr reden möchte - naja, also die Elfen sind da ein wunderbares Beispiel dafür! Wenn man gemein und überheblich war und anderen Leuten das Leben kaputtgemacht hat, breitet man natürlich gern den Mantel des Schweigens drüber aus!" Sie schnaubte verächtlich.
"Denkst du, ich möchte dauernd in der Vergangenheit herumbohren? Altes Wissen wieder zurückholen, das nichts besser macht, nur alles viel unsicherer?! Das ist verkehrt! Aber ich muss mich doch wundern, warum gewisse Leute, die gern die Wahrheit und das Wissen für sich haben, mich meiden! Viel eher hätte ich es verstanden, wenn sie versuchen würden, mich für sich zu besitzen. Wenn ich ein altes gefährliches Buch finde, verbrenne ich es dann, nur weil jemand anderes darin lesen könnte?! Eher würde ich es mit meinen Notizen füllen..."

Eigentlich hatte Naira keine Ahnung, wie man mit alten Büchern umging. Sie selbst konnte weder richtig schreiben noch lesen. Für sie war alles aus Papier vergänglich, und so wurde es auch von ihr behandelt. Doch sie hatte beobachtet, dass die Menschen dem geschriebenen Wissen einen viel höheren Wert beimaßen als dem Wort - so als habe das Geschriebene ein vom Schreiber abgetrenntes Vertrauen verdient... Daher gebrauchte sie dieses Bild.

"Meinst du, dass dieser Zirkel das mit mir versucht hat?", fragte sie prompt.

Sie hatte schon eine geraume Weile darüber nachgedacht, warum ausgerechnet sie gesehen hatte, was geschah, schon bevor ihr Fuß die Schwelle des Hauses übertreten hatte.

"Weil ich magisch bin und sie versuchen, alles Magische für sich zu haben? Der Kreis hat versucht mich aufzuessen! Etwas hat mich unfreiwillig dorthin gebracht, auf dem Weg, den ich sonst freiwillig gehe. Und zuerst wollte der Kreis mich nicht näher heranlassen, als ich deinen Dolch wegnehmen wollte. Aber als ich dem Schmerz widerstanden habe und die Woge wuchs in mir, da hat er versucht, mich aufzusaugen... Und er wollte in mich hinein! Er wollte mein Blut verändern!"

"Und wieso wollte er Euch? Es heißt, Ihr wurdet ausgewählt, weil Ihr nachlässig wart. Ich glaube nicht, dass sich das auf das Herumliegenlassen Eurer Sachen allein bezieht."