Lange sind wir gewandert, durch Wuesten, wo die Sonne auf uns herniederbrannte, als wolle sie
und alle toeten, durch Ebenen mit saftigem Gras, dass den Unsteten zum Verweilen einlud.
Landstriche haben wir gesehen, die vorher keiner aus unserer Heimat zu Gesicht bekommen hatte.
Nicht ueberall wurden wir friedlich empfangen, wilde Bestien und fremde Voelker haben unsere
Reise behindert und einen hohen Tribut gezollt. Und als wir uns immer weiter den Bergen im
Norden naeherten, schrumpfte unsere Zahl. Kurz bevor der Fuß der Gebirgskette erreicht war, die
die Mitte des Kontinents einschloss und vor den Augen fremder bewahrte, war ich allein. Meine
Kameraden waren alle ins Reich des Todes entschwunden.
Und so waren meine Augen die einzigen, die die Stadt erspaehten, die sich am Horizont
abzeichnete. Und als ich mich ihr naeherte, wurden aus den kleinen Wegen und Trampelpfaden
Straßen, die ploetzlich aus dem Boden zu wachsen schienen um nun direkt auf den Horizont
hinzufuehren.
Und so betrat ich das erste mal die Straßen von Viria, jener Stadt, von der es keine Zweite gab.
Und so naeherte ich mich den Mauern mit ihren Toren, die in ihrer vollen, beeindruckenden Groeße
vor mir aufragten. Hatte ich eine Stadt der alten Herrscher gefunden? Das Tor schien groß genug,
einer ganzen Armee den Durchlass zu gewaehren und ich machte mich bereit, gleich den Wachen
dieser fremden Stadt zu begegnen, in der Hoffnung, dass sie nicht nach meinem Leben trachten
wuerden. Doch das Tor stand offen, und keine Menschenseele schien dort auf mich zu warten.
Vorsichtig sah ich mich um, doch ich konnte auch mit Muehe niemanden erblicken. Zoegerlich
blieb ich einen Augenblick stehen, doch nichts tat sich. So setzte ich meinen Weg fort. Die Straßen
waren breit, geradezu Prachtalleen, gesaeumt von großen steinernen Bauten, die auf mich
herabzuschauen schienen und das Echo meiner leisen Schritte wie Donner auf mich zurueck warfen.
Verstohlen blickte ich mich immer wieder um, in der Hoffnung auf einen Schatten, der in meinen
Augenwinkeln vorbei huschte und mir zu verstehen gab dass etwas merkwuerdiges vor sich ging.
Doch ich sah nichts.
Nach endlosen Schritten durch die Straßen der Stadt, mal hektisch, mal vorsichtig, blieb ich stehen
und nun traute ich mich auch, die Vermutung, die sich in meinem Hinterkopf angebahnt hatte,
meinen Verstand betreten zu lassen: Die Stadt war leer, von allem Leben verlassen – diese
Metropole schien eine Geisterstadt zu sein. Doch was hatte diese praechtige Stadt entvoelkert?
Meine Neugier obsiegte und ich betrat eines der Haeuser; Es war nicht verschlossen. Ich
durchsuchte das ganze Haus, doch nichts war zu finden außer leeren Raeumen, gelegentlich mit ein
zwei Moebelstuecken, die nur von ihrer eigenen Nutzlosigkeit zeugten, da niemand in diesem Haus
zu wohnen schien. Auch ein zweites Haus bot das selbe Bild, genauso wie das dritte und vierte.
Langsam machte sich in mir Panik breit – Hatte ein Krieg diese Stadt zu einer leeren Huelle
gemacht? Nein, dann haette ich Zerstoerungen gesehen, sowohl an den Haeusern als auch an den
Mauern. Aber es war alles in perfektem Zustand. Hatte eine Seuche der Pestilenz die Bewohner
dahingerafft? Dann haette es sicher Leichen gegeben. Doch auch die fand ich nicht. Hatten die
Bewohner ihre Stadt zurueckgelassen? Das waere moeglich gewesen, doch wer haette eine Stadt
wie diese einfach so verlassen? Abermals blickte ich mich um.
Und da nahm ich es zum ersten mal wahr... Das einzige Geraeusch, das die Stadt erfuellte, war mein
eigener Atem. Nun, da ich mir der Stille bewusst war, droehnte es wie ein Wasserfall in meinem
Kopf und der Klang der Luft, die mein Koerper einsog und wieder herauspresste steigerte sich in
der Abwesenheit jedes anderen Geraeusches zu einem Laerm, der mich scheinbar taub werden ließ.
Die Luft selbst schien stehen zu bleiben hier, nur bewegt durch meine Lungen. Dann blickte ich zu
Boden und fuhr mit meinem Finger in langer Spur ueber den Boden. Nichts. Kein Staubkorn blieb
an meiner Fingerkuppe haengen.
Panisch blickte ich mich um: Es schien, als haette etwas diese Stadt aus Zeit und Raum entfernt, sie
herausgerissen aus der Realitaet die ich kannte.
Von Angst ergriffen begann ich loszulaufen. Wohin war mir egal, ich wusste selbst nicht einmal
warum ich ueberhaupt lief, doch schien es mir die vielversprechenste Moeglichkeit, meinem
Grausen zu entkommen. Ich lief und lief, durch Straßen und Gassen, bis mein Koerper mir weiteres
laufen untersagte und ich erschoepft auf die knie ging. Doch diesmal stach mir etwas anderes ins
Ohr: Ein leises dumpfes Plaetschern, wie von einem Brunnen. Ich machte mich auf, den Quell des
Geraeusches zu erkunden, und letztendlich betrat ich einen großen Platz...
Er war so groß, dass ein kleines Dorf darauf platz gehabt haette. Doch stattdessen standen dort ein
Becken von schierer Groeße, als haette ein See die Mitte des Platzes in Besitz genommen.
Da fiel mein Blick auf die Fluessigkeit – Es war kein Wasser, es floss vielmehr wie Quecksilber,
doch es schimmerte in einem blaeulichen Schwarz, wie ich es zuvor nie gesehen hatte und nur aus
geschickten kannte: Es musste die Essenz des Schwarzen Eises sein.... Es fuellte diesen See vor mir,
gespeist von unbekannter Quelle.
Ich blickte mich um, die Angst ergriff mich, als ich begriff dass ich geradewegs in die Hoehle des
Loewen marschiert war. Meine Gedanken schlugen Kapriolen. Wo war ich gelandet?
„Du bist in Viria“
Als ich meinen Blick wieder auf den großen Brunnen gerichtet hatte, schien sich dort etwas zu
bewegen... an einer Stelle am Rand woelbte sich die Oberflaeche der Fluessigkeit in die Hoehe, bis
die Woelbung Mannshoehe erreicht hatte. Dann entstieg eine Gestalt dem Brunnen. Ihr Koerper
schien menschlich, doch vermochte ich nicht zu sagen ob Mann oder Frau, denn der Leib schien
nach wie vor aus der Fluessigkeit zu bestehen, die sie wie ein Kleid umhuellte und nur den Kopf
freigab, dessen Gesicht glatt und bleich war.
„Willkommen in dem, was sein wird.“
Wieder diese Stimme, von der ich mir nun sicher sein konnte, dass sie von der Gestalt kam, sie nun
vor mich getreten war. Ueberwaeltigt von der Situation wusste ich meine Gedanken nicht zu
sortieren, und so sprach ich den ersten aus, der mir in den Sinn kam: „Wer bist du?“
„Ein teil des Ganzen. Kein ich, sondern ein Wir, eine Stimme, die dir deine Fragen beantworten
soll. Ich bin niemand. Und viele. Alles und nichts.“
Ich war verwirrt von der Antwort des Wesens, das zwar vor mir stand wie ein Mensch, aber doch
niemand zu sein behauptete. Doch meine Gedanken sammelten sich langsam wieder. „Und was ist
dies fuer ein Ort?“
Das Wesen antwortete: „Das ist Viria. Hier wurden wir geboren. Wir haben die Ordnung gebracht.
Ist es nicht wundervoll?“
„Du meinst, dies ist die Stadt in der das Schwarze Eis geschaffen wurde? Und wo sind seine
Einwohner, die ganze Stadt ist leer“
„Sie sind alle eingegangen in die Essenz, um teilzuhaben an der Ordnung und der Perfektion, die
unser Wesen sind.“
Noch bevor ich etwas weiteres sagen konnte, drehte sich das Wesen um und ging zum Kopfende
des Platzes. Ohne darueber nachzudenken folge ich ihm, denn es schien mir keine Gefahr von ihm
auszugehen, und meine Neugier war geweckt. „Wer wohnt in diesen Gebaeuden?“ fragte ich das
Wesen im Gehen. „Niemand. Sie sind ein Ueberbleibsel der alten Welt. Sie dienen nun nur noch
dazu, der Ordnung und Perfektion ein Denkmal zu setzen.“
Und als ich mich umsah, wurde mir klar, dass diese Haeuser tatsaechlich unnatuerlich waren...
jemand hatte sich die Muehe gemacht, alle Kanten zu begradigen, die Winkel auszurichten... und
sie dann einfach stehen zu lassen.
Wir gingen auf ein großes Gebaeude zu, dass einst scheinbar ein Tempel gewesen war. Doch
wessen Symbol auch immer einst am Eingang geprangt hatte, es war entfernt worden und durch das
Symbol des Schwarzen Eises ersetzt worden.
„Aber wo sind die ganzen Truppen, die Rakhs? Wohnen sie nicht hier?“
Ohne sich umzudrehen sprach das Wesen weiter: „Es gibt hier keine Rakhs, keine Lû-Sota und
Sota, keine Sharuhne, Vo'Kaleph und Khor'Ottar. Sie sind alle geschaffen fuer den Krieg. Viria aber
ist das Ende des Krieges. Es ist die Welt danach.“
Das verblueffte mich nun sehr. Das einzige was ich bisher vom Schwarzen Eis mitbekommen hatte
waren seine Legionen. Nie im Leben waere mir der Gedanke gekommen, dass es mehr gibt als die
unzaehligen Legionen an Kaempfern, die die Welt mit Krieg ueberzogen.
Wir betraten den Tempel durch das mittlere Tor und ich sah nun in eine lange Halle. Die steinernen
Waende waren verziert mit Steinmetzarbeiten. Ich betrachtete die Bilder, die mir eine Geschichte zu
erzaehlen versuchten, aufmerksam, waehrend das Wesen nur dastand und mich dabei beobachtete.
Die Reliefe erzaehlten die Geschichte von den alten Herrschern, wie sie das Schwarze Eis
erschaffen hatten! Und auch wie sie letztendlich von ihrer Schoepfung vereinnahmt wurden,
aufgesogen und in deren Kontinuum einverleibt wurden.
Dann fiel mein Blick auf den Thron, der am Ende des langen Saals stand. Und auf dem Thron saß
eine steinerne Statue, aus schwarzem Marmor. Ohne jemals einen Blick auf das Wesen geworfen zu
haben, schein es mir doch, als saeße der Imperator vor mir, Herrscher ueber all das was ich in dieser
Stadt bisher gesehen hatte.
Mir wurde schwindelig. Wo war ich? War das ein schlimmer Traum? Wieder rasten meine
Gedanken. Und es blieb mir nur eine Frage, die ich noch stellen konnte: „Warum?“
„Sieh dich um“ antwortete das Wesen. „Siehst du hier eine einzige Spur von Leid? Von Verfall?
Krankheit, Hunger und Tod haben hier kein Zuhause, genauso wenig wie all die anderen Leiden,
die die Welt dort draußen bereit haelt. Und fuer jedes Schoene dort gibt es hundert schlimme und
haessliche Dinge, die auf jeden warten, der sich dort hinaus begibt.
Nicht hier. Hier gibt es nur Frieden und Ordnung. Nur Glueckseligkeit. Es ist perfekt.“
Und da sah ich mich um. Ich ging zum Eingang des Tempels und betrachtete diesen Ort, der still
und friedlich vor mir lag. Aus dem Augenwinkel nahm ich war, wie das Wesen hinter mir zerfloss,
und die Essenz, aus der es bestand, durch die Fugen der Steinplatten versickerte und dann
verschwunden war. Zurueck zu den Brunnen, in dem die Essenz so friedlich vor mir lag.
Was war richtig, und was falsch? Mein Verstand dreht sich im Kreis und will nicht anhalten. Die
Welt dort draußen ist in Aufruhr, kaempft um ihr Ueberleben, um ihren Erhalt. Und ich stehe hier,
dem Muster fuer alles, was ihr folgen soll.
Ich spuere wie mein Verstand entschwindet, hinaus in die Stille von Viria.
Der letzte Tagebucheintrag eines verrückt gewordenen Expeditionsteilnehmers, welcher als einziger zurück kehrte, die Wüste zu erkunden.