Weiße Schwingen

  • Wann? Kurz nach dem „Zeit für Gespräche“
    Wo? Auf einer Straße von Exilia nach Paolos Trutz
    Wer? Wer möchte
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    Schnee war ganz und gar verkehrt für eine Lethi! Kalt und langweilig anzuschaun und noch obendrein so beschaffen, dass man aussehen musste wie ein Schaf, um nicht entdeckt zu werden…


    Die Elbe wanderte missmutig und nachdenklich in Richtung des sinkenden Tageslichts. Ihr Kopf war sichtbehindert aber notwendigerweise tief in der weißen Kapuze ihres weißen Mantels verborgen. Die Welt bestand für Naira im Moment nur aus Schneegestöber, unwegsamer Straße und dem ständigen Zittern ihrer Arme, die sie fest um den Leib geschlungen hatte.
    Die Kaninchenfelltroddeln nickten traurig und feucht an ihrem Mantelsaum. Nein, Winter war keine Jahreszeit, die man draußen – oder überirdisch – verbringen sollte!


    Sie war bei diesem Bankett gewesen. Sie hatte selbst bemerkt, dass sie dort eine Andere gewesen war als früher. Tiefe Gedanken waren durch ihre Adern geflossen seit dem Sommer… Es hatte die Zeit gegeben, eine Welpe zu sein, und eine Zeit des Wachstums… und nun? Nun sah sie.


    Es war nicht plötzlich geschehen, sondern allmählich war es ihr zu Bewusstsein gekommen, dass sie Dinge wusste – nicht die Dinge, die sie von den Lethi gelernt hatte, oder von den Menschen, oder den Uruks. Sicher, sie konnte sich durch deren Lehren einen Reim auf vielerlei machen, wenn sie ihren Kopf anstrengte und Schlüsse zog aus dem, was gerade geschah.
    Doch was sie WUSSTE – was sie tief in sich erkennen konnte – das kam nicht aus der Erinnerung. Das war nicht das alte Lied der Vergessenen! Oder doch? Es waren freilich ihre Stimmen, die nun laut in ihrem Blut sangen: Von Verbindung und Trennung, von Sehnsucht und Geduld. Aber es war Nairas eigener Leib, Nairas eigenes Blut geworden seit der Vereinigung…


    "Weil Kinder vertrauen und ohne Zweifel sind", hatte der Mann gesagt, der sie geleitet hatte, als sie noch ein Welpe war. Sie aber hatte nun wirklich diesen Zweifel nicht mehr – ganz unbemerkt war das Aufbäumen und Suchen von ihr gewichen und hatte Platz gemacht für – für den Gedanken darüber, was kam. Was im Kommen war. Oder längst schon neben ihnen ging.
    Die Vergangenheit schwieg und ihr Geist richtete sich in die Zukunft. Es war nicht leichter geworden dadurch… Und zu allem Überfluss weigerte sich ihre Zunge neuerdings!
    „Teil deine Geheimnisse mit mir“, hatte der Schild Aquas sie gedrängt. Und die Elbe hatte zu ihrem eigenen Erstaunen gespürt, wie der Zorn in ihr aufgestiegen war. Hatte sie nicht immer gewollt, als das erkannt zu werden, was sie war? Eine, die sah? Die Wissen teilte?
    Nun war da einer, der kam und fragte – und sie stieß ihn zurück?!


    Vielleicht war es ihr einfacher erschienen, nach Beachtung und Gehör zu streben, als sie nur erzählen wollte, was ihr aufgetragen worden war – aber es nicht durfte? Als es nichts zu verraten gab, das ganz aus ihr selbst stammte, sondern bloß altes oder eben fremdes Wissen war… Dinge, die außen, nicht Dinge, die in ihr selbst geschahen…?


    Wandlung. Das Mormoffelfell trat ihr wieder in den Sinn, und sie stapfte für einen Moment lang energischer und mit steigendem Widerwillen durch den festgetretenen Schnee der Menschenstraße.
    „Ob die Mormoffel eine Seele zurück in den Kreis reißen können?", hatte das Dunkel gewispert.
    Oh, es schmerzte so, in diese Welt zu sehen! Vielleicht war es doch besser, die Kapuze über den Kopf zu ziehen und alles abzustreiten! Besser zweifeln, oder glauben – als wissen!
    "Man muss ertragen, dass man neu gemacht wird!“, hatte sie selbst in ihrer Kinderweisheit gesagt. Oh, wie unglaublich naiv war sie gewesen, ihre eigenen Worte nicht zu verstehen, obwohl sie sie klar und vernehmlich hörte!


    Wandlung und Rückkehr, Vereinigung und Aufstieg – auf weißen Schwingen, auf weißen, tödlich kalten Wogen empor…

  • Ein Wind kam auf, der spürbar Wärme brachte. In den nächsten Tagen schmolz das Eis von den Wegen, und die Felder rechts und links der Straße traten wieder braun unter dem Schnee hervor.


    Es war Winter, aber es fühlte sich an wie der Frühling. Das Spitzohr ging beschwingter, man konnte den weißen Mantel gegen das braune Jagdgewand tauschen und schneller gehen.


    In der nächsten Ortschaft entschloss sie sich sogar, auf einem Gefährt der Menschen mitzureisen, das die Handelsstraße hinunterfuhr. Lange war sie griesgrämig und einsam gewandert, doch über das beschwerliche Gehen hatte sie Zeit gehabt, über alle Gesichter des Nordens nachzudenken.


    Wer würde ihr Wort hören? Wer war offen genug in seinem Geist, um mit ihr zu überlegen, was das alles bedeuten sollte? Wer behandelte sie als Freund, ohne zu leugnen, was sie war?


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