Alnock warf ihr einen überraschten Blick zu. Es war fast dunkel hier, und seine Nachtsicht war bei weitem nicht so gut wie die von Sheanna oder gar einem Elben, under fragte sich, ob sie ihn auf den Arm nahm.
Warum sollte jemand eine so verständige und freundliche Person meiden?
Dann rief er sich wieder ins Gedächtnis, was sie ihm von ihren Aufgaben erzählt hatte, und dass sie es vermochte, die Wahrheit aus Menschen heraus zu zwingen.
Vielleicht war es nur natürlich, dass man sie dort, wo sie her kam, fürchtete und deshalb mied.
„Vielleicht liegt es daran, dass Du hier nicht so anders bist als der Rest wie daheim“, mutmaßte er.
Dann setzte er sich bequem zurecht und begann in seiner Erzählerstimme seine eigene Geschichte.
„Ich wurde geboren in einer kalten Winternacht vor langer Zeit. Dies ist mein fünfundvierzigster Sommer.
Der Ort, an dem ich geboren wurde, lag außerhalb der Reiche der Menschen. Es gab dort keinen Fürsten und keinen König, nur den Hof, den mein Urgroßvater Grimnock dort errichtet hatte.
Unsere Freiheit war unser höchstes Gut. Grimnock hatte sie sich und all seinen Nachkommen verdient, und wenn dieses Leben auch hart und voller Arbeit war, so schätzten wir es doch sehr.
Du würdest diesen Hof wahrscheinlich mit einem Gutshof vergleichen. Es lebten zu meiner Zeit vielleicht dreißig Personen dort, viele aus meiner Familie, aber auch andere, Nachkommen derjenigen, die mit Grimnock die Reiche der Menschen verlassen hatten.
Mein Großvater starb jung, und auch mein Vater. Es gab kräuterkundige Frauen, aber keine echten Heiler oder gar Magie. Auch Götter waren uns fremd.
Unfälle, Verletzungen und Krankheiten forderten ihren Tribut. Zwar war schnelles und leichtes Heilen ein Teil von Grimnocks Erbe, aber auch dieses konnte nicht verhindern, dass mein Großvater früh starb und sein Sohn nicht viel älter wurde als er.
Ich war in meinem siebzehnten Sommer, als der Hof plötzlich an mich fiel. Ich war keine achtzehn Jahre alt, als ich zum ersten Male Vater wurde. Ich hatte mein sechsunddreißigstes Jahr gerade beendet, da hielt ich meine Enkeltochter auf dem Arm, den ersten weiblichen Nachkommen Grimnocks, der stark genug war, um zu leben.
Ich hatte eine ganze Lebensspanne auf jenem Hof im Tal des Schwarzeichenflusses, ein paar Tage außerhalb der Mittellande.
Es endete im folgenden Herbst. Ich kehrte von einem Jagdausflug zurück, der mich mehrere Tage in die Wildnis geführt hatte, und fand den Hof niedergebrannt. Es gab niemanden mehr, den ich retten konnte.“
Er sagte es ruhig. Der Schmerz war noch da, aber er war alt, hatte seine Schärfe verloren.
„Ich ging fort. Vielleicht hätte ich alleine überleben können dort draußen, aber es hätte mich doch nur zerstört, an diesem Ort zu bleiben.
Drei Jahre lang irrte ich umher, ziellos, ohne Sinn. Kam ich in bewohnte Gebiete, so nahm ich jede Arbeit an, zu der ich in der Lage war. In der Wildnis lebte ich von dem, was ich mir erjagen konnte.
Aber irgendwann hatte die Zeit ausgereicht, um die schlimmsten Wunden an meiner Seele zu heilen. Es war an der Zeit, den Wahn meiner Flucht zu beenden.
An diesem Punkt traf ich die Zugvögel.“
Die Erinnerung ließ ihn lächeln.
„Sie sind ein wirrer Haufen, laut und manchmal grob, aber herzensgut.
Ich beschloss, eine Weile mit ihnen zu reisen. Sie zogen umher, doch nicht ziellos, sondern im Kampf gegen das Übel. Und ich hatte die Idee, ich könnte ihnen helfen, die Welt ein Stück weit besser zu machen.“
Er lachte in sich hinein.
„Sie waren es, die mich mitnahmen in dieses Land. An ihrer Seite traf ich den Avatar Terras. Und in diesem Moment, vier Jahre ist es her, wusste ich mit vollkommener Klarheit, dass ich vor der Sendbotin meines Gottes stand, des Gottes, auf den ich mein ganzes Leben gewartet hatte.
Und so blieb ich hier, als meine Zugvögel-Freunde das Land wieder einmal verließen.“
Er zog die Stirn kraus und überlegte.
„Ich kürze hier einmal ab, wenn Du es erlaubst:
Es verschlug mich in den Westen, in die Hauptstadt. Ich bot meine Hilfe an, traf meine ersten Kelten und baute mit ihrer Hilfe eine Mühle in der Nähe der Stadt. Ich bin kein schlechter Handwerker, und es hat Vorteile, wenn man an einem Ort gelebt hat, wo man alle Arbeiten selbst ausführen musste.
Im kommenden Sommer stand der nächste Feldzug an. Und die Sehnsucht, Terras Avatar wieder zu sehen, trieb mich aus dem Westen in den Süden.
Es war mein Wunsch, mich ihr voll und ganz zu verschreiben. Ich war … wie entrückt, und wohl auch ein wenig verliebt.
Dann traf ich Siobhán. Sie war der Westen, der mich so freundlich aufgenommen hatte, in dem ich mich zu Hause fühlen konnte, zumindest ein klein wenig. Ich wollte Ihr zurück geben, was Ihre Siedler mir geschenkt hatten.
Als sie die Führer ihrer Siedler um Unterstützung bei einer Leibwache für sich bat, trat ich vor und meldete mich. Und als sie sagte, dass ich ja kein Siedler sei und sie mich gar nicht kenne, kniete ich vor ihr nieder und schwor ihr Treue, schenkte die Freiheit weg, die meine Ahnen so hoch geschätzt hatten.
Und so wurde ich Siobháns Leibwächter, erst einer von mehreren, bis nur noch ich übrig blieb und plötzlich der war, der ihren Schutz führte.
Zwei Jahre vergingen, und ich begann unruhig zu werden. Terra war gebannt, und mir kam es so vor, als gäbe es mehr, was ich tun könnte, als an Siobháns Seite zu stehen.
Zwei Jahre lang hatte ich Terra und den Elementen gedient, indem ich Siobhán diente. Nun war es an der Zeit, einen Schritt weiter zu gehen.
Ich hatte so viele Mächtige kennen gelernt, so viel Wissen angesammelt, so viele Kämpfe geschlagen, dass ich es als Vergeudung empfand, all das für eine Aufgabe zu verschwenden, die auch jeder andere Mann ausführen konnte, der kräftig genug war, einen Schild zu halten.
Ich war, so denke ich, über das, was ich tat, hinaus gewachsen.
Aber ich wusste nicht, was ich ansonsten tun sollte. Ich wusste, ich sollte einen Weg gehen, aber es war mir unmöglich, ihn zu finden.“
Seine Hände führten kleine Gesten aus, während er redete. Sein Blick verließ Sylvanas Gesicht immer dann, wenn er nachdenken musste, kehrte jedoch sofort zurück, wenn er weiter erzählte.
„Das war, als ich in den Osten ging. Ich dachte, Thorus könnte mir den Weg zeigen. Aber natürlich konnte er es nicht.
Und er wusste es. Und wusste auch, dass ich Zeit brauchte.
In der Grauen Stadt, im Süden, offenbarte sich mir schließlich mein Weg. Ich verdanke es Elen, und ich werde sie dafür stets schätzen.
Ich nahm Terras Essenz auf, die aus dem Schwert weichen musste, damit es sphärisch werden konnte. Magica nutzte mich, um Faryanne die Botschaft des Landes zu überbringen, sandte mir die Vision von Orphaliot, seiner Frau und ihrem Neches’Re Jevahis, der sie niederstreckte. Und der Untod fand mich und drohte mir mit Vernichtung, wenn ich weiter darauf bestand, in Terras Namen zu streiten.
Es war an diesem Punkt, dass ich begriff, wirklich zum ersten Mal völlig begriff, dass die Elemente, nicht nur Terra, meine Götter sind. Dass ich ihnen gehöre und es mein Weg ist, ihre Wege zu achten und ihren Geboten zu folgen. Dass der Rest meines Lebens darin bestehen würde, sie zu preisen und die Aufgaben zu erfüllen, die sie mir auftrugen.
Ich verstand, dass ich mich an das alte Leben klammerte, immer noch, indem ich immer darauf bestand, doch nur ein Bauer zu sein. Es war an der Zeit, loszulassen und sich den Elementen hin zu geben, sie entscheiden zu lassen, was ich sein sollte.
Danach … als das Goldene Kind erschien …
Ich hätte nicht zu hoffen gewagt, dass sie mich fragen würden. Ich hätte nie daran geglaubt, dass ich würdig sein könnte. Aber als sie mich vor die Almahandra führten und sie in meine Seele blickte und mich fragte: „Bist Du bereit?“, da antwortete ich: „Ich werde nie mehr bereit sein als in dieser Stunde.“
Und so tat ich den Schwur.“
Er spreizte die Finger beider Hände.
„Und mehr ist es nicht, aber auch nicht weniger.“