Auch eine andere Lichtensteyn grübelte über die vergangenen Tage und Wochen nach, während sie ihre und die Sachen ihres Mentors zusammenpackte.
Vieles war geschehen seit dem Aufbruch in dieses fremde Land, fern von dem inzwischen ach so ruhigen Samar. Manchmal vermisste sie die unsteten Zeiten im Untergrund der Hauptstadt, doch dann wieder schätzte sie die Sicherheit, welche ihr durch das Wiederfinden der Familie gegeben wurde. Familie…insbesondere ihre Familie…was für eine Unruhe doch in ihr herrschte. Der eine sprach mit dem anderen nicht, jeder hatte Vorbehalte gegen den Bruder oder die Schwester und letzten Endes ging es doch nur darum, wie jeder sein Leben gestalten wollte. In der Tat hatte Eluna sich mehr davon versprochen, ihre Tante Sylvana kennenzulernen. Mehr zu lernen über die Vergangenheit der Familie, die sie bis vor wenigen Jahren gar nicht kannte, gar nicht wusste, dass sie zu den Lichtensteyns gehörte. Doch irgendwie kam man nicht zusammen. Es schien fast, als würde Sylvana sämtlichen Kontakt zu ihr bzw. zu ihrer Delegation aus Samar meiden. Nur das kurze Gespräch in der Spiegelwelt hatte bisher stattgefunden.
Jedes Mal, wenn sie auf Yunalesc den Weg zu ihrer Verwandten gehen wollte, war diese gerade auf eine andere Person getroffen und wendete sich ab. Später, nach den für Eluna überraschenden Ereignissen rund um Assiah schien es dann gänzlich nicht mehr geraten zu sein, ein Gespräch zu suchen. Dabei hatte Eluna nicht darum gebeten, Teil des Rats der Sechs zu sein, doch konnte sie diese Ehre auch nicht ablehnen. Sie hatte versucht ihr Bestes zu tun innerhalb der erfahrenen Gruppe, doch was aus der gefällten Entscheidung wurde, würde sie wohl nur am Rande mitbekommen. Sie konnte nur hoffen, dass Assiah ihren Weg finden würde, konnte sie diese Frau doch gut leiden und hatte die Worte des Vertrauens auch ernst gemeint.
Insgesamt hatte sie viele ihrer Yunalescer Ordensbrüder und –schwestern näher kennengelernt und war sich sicher, vielen von ihnen Vertrauen schenken zu können und würde sie länger hier verweilen, könnten sogar bis zu einem gewissen Grad Freundschaften entstehen, doch ihr Weg würde sie nun zunächst zurück nach Samar führen, wo sie – wie es aussah – einige Zeit bei ihrem Vater Dariel verbringen würde…Was das geben würde, wussten nur die Engel. Sie seufzte, Familie…man kann sie sich nicht aussuchen und muss das Beste draus machen.
Ihr Blick wanderte über das Gelände und entdeckte Sylvana in Gedanken. Ja, sie war ein Teil ihrer Familie, den es jedoch noch zu entdecken galt. Vieles hatte sie gehört, vieles in den letzten Wochen und Monaten gesehen, doch kennengelernt hatte sie die Frau noch nicht. Was bewegte sie zu den Schritten, die sie in den vergangenen Monaten und Jahren getan hatte?
Eluna legte die letzten Kleidungsstücke zusammen in die Holztruhe und richtete sich dann auf. Da Corvin noch im Gespräch mit anderen war, fasste sie sich ein Herz und schritt hinüber zu ihrer Tante, um die, vielleicht auf längere Sicht, letzte Möglichkeit zu nutzen, mit ihr einige Worte zu wechseln.
„Schwester Sylvana, den Engeln zum Gruße. Wir werden bald abreisen und ich möchte das Land nicht verlassen ohne ein paar Worte mit dem Teil meiner Familie gewechselt zu haben, der hier seinen Lebensinhalt gefunden hat. Wie es scheint, sollte es nicht sein, dass wir in den letzten Tagen zueinander gefunden haben. Du schienst immer sehr beschäftigt und später hing wohl „der Haussegen“ etwas schief, wenn ich das mal so einfach ausdrücken darf. Doch mir liegt daran, dass wir uns nicht weiter wie Fremde oder gar Feinde begegnen, zumindest von meiner Seite nicht. Wollen wir ein paar Schritte gehen?“