Er ging einmal in jede Richtung halb um die Kiste herum. Auf der zur Wand gedrehten Seite meinte er etwas zu erkennen, dass eventuell einen Hinweis über die Herkunft geben könnte. Er beugte sich in einer fast schon akrobatischen Pose mit einer schlangenartigen Bewegung an einem Regal voller Gläser vorbei und steckte seinen Kopf zwischen Wand und Kiste. Ihm brannten die Augen als er versuchte die Holzplanke direkt vor seiner Nase scharf zu stellen, griff in seine Brusttasche und holte einen Zwicker hervor. Er zuckte zusammen, zog den Kopf ruckartig zurück wobei er erst gegen die Wand, danach gegen das Regal schlug. Er verharrte kurz in einer halbgebückten Pose und wartete auf ein Klirren - doch es kam keines. Vitus sah sich verlegen um als ob er Angst hätte, dass jemand sein Tun beobachtet haben könnte. Doch nur ein ausgestopftes Wiesel in der Fensterbank blickte ihn starr und fragend an. Vitus warf ihm einen „erzähl das bloß niemandem weiter“-Blick zu und wandte sich wieder der Kiste zu.
Gefunden hatte er ein Symbol, dass er schon lange nicht gesehen hatte: Das ceridisches Augenkreuz, aufwendig umrahmt mit einigen Zierranken und Blüten sowie den verschnörkelten Initialen VT.
"Voronius Theodorus“ - murmelte Vitus in seine nachdenklich vor dem Mund gehaltene Hand.
Der Name weckte bei ihm viele Erinnerungen aus der alten Welt. Ihm hallten sanfte liturgische Gesänge durch den Kopf, der Geruch von alten Büchern und von frischen Kräutern, dann das grimmige, karge Gesicht von Voronius Theodorus. Vitus schüttelte seinen Kopf als wenn er das vorgestellte Gesicht aus seinen Augen schütteln wollte.
Er blickte sich im Raum um und ging zielstrebig in Richtung eines Regals, drehte jedoch innerhalb des zweiten Schrittes auf dem Fußballen um und fasste mit einer Suchenden Bewegung unter eine kleine Bank, zog nach etwas Tasten eine scheppernde Ledertasche hervor. Aus der Tasche holte Vitus eine lange Schmiedezange und ging zurück zur Kiste.
Nach acht entfernten Nägeln ließ sich der Deckel der Kiste öffnen.
Vitus beugte sich neugierig aber vorsichtig über den Rand. In der Kiste befand sich eine Menge Stroh. Halb im Stroh versunken blickte ein großer Umschlag aus feinstem, aufwendig verziertem Pergament hervor. Vitus griff und begutachtete das Schriftstück.
In kalligrafischer Perfektion titelte der Umschlag, formuliert in klassischem Voigtheimer Schreibstil:
Zu alleynigst Hand’ so auch eygenst Aug’ des Vitus Theodor Beathanus her von Voigtheim in Exilia.
Vitus blickte sich kurz um als wenn er erwartet, dass ein Fanfarenspieler durch die Tür stieß um der Schrift den gebührenden Auftritt zu ermöglichen.
Er brach das Siegel und holte eine weitere Seite Pergament hervor.
Die Seite trug eine aufwändige Randverzierung mit detaillierten Pflanzen, jedoch durchsetzt mit schwarzen Blüten - dadurch unverkennbar eine Trauermitteilung der Bruderschaft Voigtheimes.
Das Schreiben begann mit der in Voigtheim üblichen Segnung, gefolgt von mehreren Siegeln und Zeichen der Bruderschaft und des Klosters von Voigtheim.
Unter uns weylet er, von nun bis in ewig Tage
Archabat artorias, curias ol deus
Nun wand sich die folgend Wort an euch, Bruder Vitus.
In Trauer tief schrieb ich jenes Wort.
Unser Bruder und treu Freund Valerian Veltar her von Voigtheim, Hüter der heilig Schriften, schied nach Einhundertundzwölf Wintern von dannen.
Weylet er nun mit dem Eynen und seinen Heiligen.
Seine Seele soll Fried finden.
Archabat artorias
Die Kist die euch gegeben hält prophetisch Schrift. Genauer noch prophetisch Schrift die beziehet sich auf die Heylkunst. Sie war einst im Besitz von Valerian, nun soll sie, so wollte er es, euch gehören.
Unter uns weylet er.
„von nun bis in ewig Tage“ - murmelte Vitus.