Beiträge von Kal Su

    "Wenn ja, berichte mir morgen davon. Der Gestank in Verbindung mit Essen? Besser nicht. Außerdem bekommen wir einen Wetterumschwung, meine Hüfte macht mich wahnsinnig vor Schmerzen. Und ich muss noch einen Forschungsbericht und einen Brief schreiben und dafür brauche ich Ruhe."
    Kal Su wandte sich um und erkämpfte sich mühsam einen Weg durch die gaffenden Schüler. Ihre Hüfte schmerzte heftig, sie brauchte das Brennen und Pochen nicht zu spüren, um zu wissen, dass die mangelhaft versorgte Wunde, die sie auf ihrer Reise nach Ancarea davongetragen hatte, sich entzündet hatte. Gereizt vom Schmerz rempelte sie einen jungen Schüler an, der ihr im Weg stand und ein Blick ihrer glühenden Augen erstickte jedes Wort im Keim.
    Langsam und mühselig hinkte sie in ihre Kammer zurück, um den Abend mit dem Schreiben ihres längst überfälligen Berichtes über die Besonderheiten der Pestilenz auf Ancarea zu verbringen. Eine Mahlzeit auszulassen, würde ihr nicht schaden, der Winter hatte Spuren auf ihren Hüften hinterlassen.

    Als Viktor seinen Blick über die versammelten Schüler schweifen ließ, stellten sich Kal Su die Nackenhaare auf. Und als er dann auch noch 'vielversprechende Subjekte' gefunden zu haben meinte, konnte sie ein leises Knurren nicht mehr unterdrücken und ihre Augen wandelten ihre Farbe wieder in das leuchtende Bernsteingelb.
    "Versuch's, Schleimbeutel!", knurrte sie fast unhörbar.
    Zu Valentin gewandt, grollte sie leise "Ich habe ja an sich keine Probleme mit dem Chaos, aber die hier? Ich weiß nicht. Ich habe den Eindruck, dass hier Krankheit und Wahnsinn Hand in Hand gehen und das bereitet mir Sorgen. Ich werde mit Gwaew-gedo sprechen, ob ich nicht doch wieder ein Zimmer in der alten Schule bekommen kann. Dann stört es auch niemanden, wenn ich nachts nach draußen gehe."
    Sie fixierte die Verseuchten aus misstrauischen Augen und harrte der Dinge, die da nun unweigerlich kommen würden.

    Kal Su zog bei Valentins unausgesprochener Frage eine Augenbraue hoch.
    "Weil sie krank sind, verseucht. Alle. Aber sie betrachten das als Geschenk und tun folglich nichts dagegen, um nicht in der Gunst ihres Gottes zu sinken. Wenn die in unserem Trakt untergebracht werden sollen, werde ich mir was einfallen lassen müssen, das ist auf die Dauer für mich zu viel, meine Nase ist eben etwas empfindlicher."
    Sie verzog erneut das Gesicht, als eine leichte Brise einen besonders widerwärtigen Pesthauch zu ihnen herüberwehte, dann tat sie es Valentin gleich und befestigte ihren Mundschutz über dem Gesicht.
    "Hm, viel bringt das nicht.", grummelte sie verstimmt.
    "Wir sollten vorsichtig mit denen sein. Auch wenn die 'kleinen' Anhänger wohl keine allzu große Gefahr darstellen, es gibt einige 'Geschenke' des Seuchengottes, auf die ich gerne verzichten kann. Ich erinnere mich noch an den Abend, als mein Meister einen Nurglerott-Fokus mit in die Taverne nahm, weil ihn jemand ein wenig zu sehr provoziert hatte. Er hätte damit, hätte er den Fokus gebrochen, die ganze Taverne umgebracht. Und das waren bestimmt hundert Leute."
    Sie erschauderte leicht bei der Erinnerung.
    "Lass uns in den Wald gehen."

    Kal Sus scharfer Nase war der Gestank von Fäulnis, Krankheit und Verwesung nicht entgangen, der sich langsam in den Räumlichkeiten breitmachte. Doch niemand schien sich besonders aufzuregen, nur einige Schüler tuschelten nervös. Erst, als sie Valentins Stimme über dem ganzen Gewusel erkannte, drängelte sie sich durch die anderen, um auch einen Blick auf die Ursache des Gestanks zu werfen.
    "Stinkt wie die Pestilenz persönlich, aber wenn das Berührte wären, wären die hier nie ohne Kampf reingekommen. Bleiben also nur Anhänger von Nurgle."
    Ihre Stimme war fast wieder zu dem kehligen Knurren geworden, das ein deutliches Anzeichne für ihr Unbehagen oder Nervosität war.
    "Aber ich glaube nicht, dass Gwaew-gedo oder einer unserer anderen Meister uns bewusst einer unnötigen Gefahr aussetzen würden. Meines Wissens sind die Nurgle-Anhänger auf die Pestilenz gar nicht gut zu sprechen. Vielleicht halten sie die für eine Fälschung oder so etwas."
    Sie grinste.
    "Egal, solange die mir nichts tun, ist es mir recht egal. Obwohl sie - wortwörtlich - stinken wie die Pest."
    Sie zuckte die Schultern und wandte sich wieder zum Gehen - auch um ihre Nase zu schonen.

    Valentins flapsiger Kommentar brachte Kal Su zum Lachen und sie schlug nach der Hand, die ihr das widerliche Gebräu unter die Nase halten wollte, wobei sie jedoch sorgfältig darauf achtete, nicht zu treffen. Schließlich wollte sie Valentin ja nicht die Genesung verderben.


    "Medizin muss bitter schmecken, sonst wirkt sie nicht!", dozierte Kal Su mit erhobenem Zeigefinger.


    Einen Moment genoss sie den Blick, den der junge Mönch ihr zuwarf, dann schaute sie mit ernstem Blick auf ihn herunter.


    "Vier. Mordenkainen wird sich schon etwas dabei gedacht haben, wenn er so genau auf die Dosierung besteht. Hat er nicht einmal gesagt, dass es nur an der Dosis liegt, ob etwas Heilung ist oder Gift? Also: vier. Und außerdem glaube ich nicht, dass Magister Mordenkainen sich von seiner Entscheidung abbringen lassen wird."


    Kal Su beobachtete, wie Valentin missmutig in seinen Becher starrte.


    "Kalt wird's auch nicht besser. Runter damit."


    Sie warf Valentin ein aufmunterndes Lächeln zu.

    Nachdem sich Kal Su von dem Überrumplungsbesuch des Druiden einigermaßen erholt hatte, lehnte sie sich wieder gegen die Fensterbank und sah zu Valentin herüber.


    "Meine Magie ist angeboren, das ist ja eigentlich nichts Unübliches, dass manche Kinder eben mit einem magischen Potenzial geboren werden. Nur im Volk meiner Mutter war es nicht nur relativ üblich, sondern vollkommen normal. Und ich muss sagen, ich bin froh darüber, dass das menschliche Blut meines Vaters dieses Potenzial nicht geschmälert hat. Und was mein Verständnis der Magie angeht, das war schlicht und einfach Ausbildung. Zuerst im Orden, dann bei Vier Winde und nun hier."


    Kal Su griff nach dem Fläschchen, das Mordenkainen auf den Tisch gestellt hatte, zog den Korken heraus und roch daran.


    "Puah! Nach Rosen riecht das ja nicht gerade... Vielleicht solltet Ihr das lieber vor dem Essen mit etwas Wasser einnehmen, die Suppe werdet Ihr brauchen, um den Geschmack loszuwerden."


    Sie warf einen Blick auf die leere Schüssel auf dem Tisch und verzog mitleidig das Gesicht.


    "Was meinen Glauben angeht, Valentin, ich bin in einem Orden aufgewachsen. Ich mag meinen Glauben nicht so intensiv praktizieren wie Ihr, doch auch ich finde Halt und Trost in den Ritualen, die mein Leben schon so lange begleiten. Ich denke oft, dass ich meinem Glauben mehr Zeit in meinem Leben einräumen sollte, zumal ich irgendwann auch vorhabe, zu meinem Orden zurückzukehren und die Gelübde anzulegen. Doch ich kann nicht sagen, wann das sein wird, ich habe noch viele Dinge, die ich erreichen möchte, bevor ich in meine Heimat zurückkehre."


    Kal Su seufzte leise. Einige ihrer Erinnerungen an die Burg waren im Laufe der Jahre verblasst, Gesichter zur Unkenntlichkeit verschwommen und Namen vergessen.


    "Macht Euch wegen des Unterrichts keine Gedanken, von den Kursen, die wir gemeinsam haben, werde ich Euch gerne meine Aufzeichnungen zur Verfügung stellen und ich bin sicher, Kilian wird das gleiche tun. Damit sollten wir den Großteil des Unterrichts abgedeckt haben, oder? Und ich glaube, Magister Mordenkainen hat diese lange Bettruhe verhängt, weil Madame Lesson mit ihm gesprochen hat und sie es sicherlich beide für angebracht erachten. Und außerdem, wenn Ihr weniger herumlauft und immer brav die Hühnersuppe aufesst, dann hat die vielleicht auch eine Chance, bei Euch ein wenig anzusetzen, damit Ihr nicht so schnell wieder krank werdet. Ähm, übrigens, hat Magister Mordenkainen eigentlich gesagt, wofür diese ekligen Tropfen sind?"

    Kal Su nickte, die Erleichterung, dass Valentin ihr nicht böse war, war ihr deutlich anzusehen.


    "Sich nicht der Zügellosigkeit hinzugeben ist sicher eine Tugend, aber ich habe den Eindruck, dass Ihr es mit der Mäßigung etwas zu streng seht. Ich kenne natürlich die Regularien Eures Ordens nicht, aber Euch das zu versagen, was Euren Körper gesund und bei Kräften hält - und damit auch einsatzbereit, wenn wir wieder einmal die letzte Bastion zwischen dem Volk und der Pestilenz sind - kann in meinen Augen nicht richtig sein. Ihr seid noch sehr jung, Valentin, wenn Ihr Euch jetzt weiterhin so die Nahrung versagt, werdet Ihr vielleicht in einigen Jahren darunter leiden und es nicht mehr ungeschehen machen können. Und was die Suppe angeht, das ist Medizin. Und Medizin kann schon von der Definition her keine Sünde sein. Also."


    Die drei Schüler teilten ein Lachen, dann fuhr Kal Su fort.


    "Zwischen Magister Mordenkainen und mir besteht ein großer Unterschied. er ist ein Druide, die Gabe der Wandlung ist bei ihm tatsächlich eine Gabe, ein Geschenk. Er hat es völlig unter Kontrolle, ob er sich wandelt. Bei den geborenen Gestaltwandlern, zu denen ich gehöre - schaut nicht so entsetzt, Kilian, ich werde Euch schon nicht beißen - kann man in gewisser Weise schon von einem separaten Volk, fast von einer anderen Rasse sprechen. Bei den reingeborenen Wandlern ist es normal, dass sich ein Kind bereits im frühesten Alter verwandelt, zu Beginn meist sogar unwillkürlich, zum Beispiel als Ausdruck starker Gefühle. Das, was also erlernt werden muss, ist die Kontrolle der Wandlung. Ich habe damit als Kind große Probleme gehabt, da es in meiner frühesten Kindheit niemals nötig gewesen war, und auf einmal war ich nach dem Tod meiner Mutter gezwungen, diese Seite von mir nahezu permanent zu unterdrücken."


    Kal Sus Stimme war leiser geworden, ihre Augen blicken in die Ferne, in eine Vergangenheit, die nur sie sehen konnte.


    "Ich wuchs nach dem Tod meiner Mutter in einem Orden auf, der Waisenkinder aufnahm. Stellt Euch das einmal vor, ein Wesen, das fast mehr Wolf als Mensch ist, unter Dutzenden hilfloser Kinder! Ich musste lernen, mich im Zaum zu halten, sonst hätte ich dort nicht bleiben können. Und was das Nachgeben angeht, ja, das muss ich. Ich bin nicht wie die Werwesen in meiner Wandlung an den Mond gebunden, auch das hatte ich Euch in jener Nacht demonstrieren wollen, aber um den Vollmond herum ist der Ruf des Wilden Blutes am stärksten. Ich muss in regelmäßigen Abständen jagen, ich muss das Blut meiner Beute schmecken, sonst werde ich krank. Ich habe lange gebraucht, bis ich all das herausgefunden habe, da ich ja niemanden hatte, um mir all das zu erklären, und ein paar Mal bin ich am Blutfieber fast gestorben. Aber Ihr braucht Euch nicht zu ängstigen, auch in der anderen Gestalt bin ich immer noch ich. Zwar etwas impulsiver und sehr viel leichter abzulenken, aber keine Gefahr für Euch. Glaubt mir, Mensch schmeckt nicht."


    Der letzte Satz erzielte genau die Wirkung, die Kal Su erhofft hatte: weit aufgerissene Augen und leicht blasse Gesichter bei den beiden jungen Männern. Sie lachte schelmisch.


    "Keine Angst, das war ein Scherz, mehr oder minder. Ich habe schon mal einen Menschen gebissen, um mich zu verteidigen, aber ich würde niemals Menschenfleisch essen! Das könnte ich nicht. Und ehe Ihr fragt, der Biss eines Gestaltwandlers ist nicht ansteckend."


    Einen Moment schweifte Kal Sus Blick wieder in die Ferne ihrer Vergangenheit und ein leises Lächeln erschein auf ihrem Gesicht.


    "Glaubt mir, Wandler, Were und Lykantrophen können in jeder Tiergestalt auftreten, die Ihr Euch nur vorstellen könnt. Ich kannte da mal ein Kaninchen... wir nannten ihn Frühstück."


    In diesem Moment konnte man ihrem Grinsen durchaus ansehen, dass sich hinter dem menschlichen Gesicht ein Raubtier verbarg, dann wurde sie wieder ernst und ging auf Valentins letzte Frage ein.


    "Vorteile aus meiner gemischten Abstammung habe ich eher weniger, da mein Vater ein Mensch ist - zumindest soweit ich es weiß. Mein Geruchssinn ist ausgeprägter als der eines Menschen, außerdem, und das sehe ich als den für mich größten und wichtigsten Vorteil, bin ich immun gegen die Lykantrophie. Ich weiß nicht, ob ich auch gegen andere Krankheiten resistenter bin, ich habe es noch nicht ausprobieren wollen. Zumindest der Schnupfen im Herbst erwischt mich immer, also kann es damit nicht weit her sein... Andere Sinne sind leider nicht betroffen, ich bin nachts blind wie ein Maulwurf. Ganz schön peinlich, ehrlich gesagt"


    Sie sah ihre Mitschüler an und zuckte mit den Schultern.


    "Das ist es, im Großen und Ganzen. Aber wenn es noch etwas gibt, was Euch interessiert, dann fragt mich ruhig. Ich muss aber auch sagen, ich wüsste gerne auch ein wenig über Euch."

    Kal Su schaute etwas betreten ob Valentins deutlicher Worte. Gerade wollte sie das kleine Zimmer des Mönches betreten, als Kilian sie und Valentin tatsächlich mit einem alten Ehepaar verglich. Kal Su schnaubte, halb verächtlich, halb amüsiert.


    "Sicherlich nicht. Zuerst, er ist ein Mönch. Zweitens, er ist zu jung. Und drittens, ist nicht böse gemeint, zu wenig dran für meinen Geschmack."
    Sie lachte auf, als sie die Gesichter der beiden jungen Männer sah. Doch schnell wurde sie wieder ernst.


    "Aber Spaß beiseite, Valentin, ich bin hier weil ich mir wirklich Gedanken um Euch mache. Ich weiß, ich habe mich rücksichtslos verhalten vorhin, als ich Euch einfach zu Madame Lesson gezerrt habe, aber..." Sie seufzte. "Verdammt, ich bin es gewöhnt, dass wir Heiler aufeinander achten. Wie leicht kann es geschehen, dass wir die letzte Bastion zwischen den Leuten hier und der Pestilenz sind?! Wir sollten uns nicht nur um die Kranken kümmern, sondern auch um uns alle hier. Und für mich heißt das auch, jemanden wenn nötig gegen seinen Willen ins Bett zu stecken. Nebenbei," sie warf Valentin einen strengen Blick zu, "Ihr esst zu wenig. Wir haben Hühnersuppe mitgebracht. Von Mutter Corrientes. Hilft gegen alles."


    Ihr Blick wurde wieder sanft, besorgt, als sie die Schüssel auf dem Tisch abstellte und sich dann zu Valentin umdrehte.


    "Es tut mir leid, dass wir Euch vom Schlafen abhalten, aber Ihr solltet wirklich etwas essen. Ich habe im Speisesaal gesehen, was Ihr esst, und das ist zu wenig."


    Sie lehnte sich gegen den Fenstersims und ihre Blicke huschten unstet zwischen Valentin und Kilian hin und her.


    "Außerdem hatte ich Euch versprochen, Eure Fragen zu beantworten. Ich meine, wir leben schon seit Monaten hier zusammen, wir haben die gleichen Kurse, aber wir wissen nahezu nichts voneinander. Also, ich werde Euch jede Frage beantworten, das verspreche ich."


    Sie sah die beiden jungen Männer an und erwartete ihre Fragen.

    Kal Su zuckte zusammen, als die Tür neben ihr so unvermittelt aufgerissen wurde und fuhr herum. Für den Bruchteil einer Sekunde leuchteten ihre Augen gelb auf, dann legte sie mit einem tiefen Atenzug eine Hand an den Türrahmen und sah Valentin an.
    "Müsst Ihr mich so erschrecken? Wir wollten nach Euch sehen, da wir Euch im Krankentrakt nicht aufzufinden wart."
    Sie maß Valentin mit einem langen Blick, der letztlich an seinen nackten Füßen hängenblieb.
    "Ich mag ja noch einiges zu lernen haben, was die Heilkunde angeht, aber dass barfuß laufen im tiefsten Winter dem Ausheilen einer fiebrigen Erkältunng förderlich sein soll, habe ich noch nirgends gehört oder gelesen... Ihr gehört ins Bett, Valentin!"
    Ihre Stimme war bestimmt, fast ein leichtes Knurren, doch ihre Augen verrieten ihre Sorge.
    "Können wir reinkommen?"

    Kal Su musste lächeln ob dieser Antwort, doch schnell wurde sie wieder ernst.


    "Nicht er hat etwas angestellt, ich habe Mist gemacht. Großen Mist sogar, fürchte ich. Valentin saß heute mit Fieber im Unterricht und ich habe ihn zu Madame Lesson geschleppt, damit sie ihn vom Unterricht freistellt und ins Bett schickt. Ich hatte mir Sorgen um seine Gesundheit gemacht, da ich ehrlich gesagt an seinem Fieber Schuld bin. Aber ich fürchte, es hat so ausgesehen, als wollte ich ihn vor Madame Lesson bloßstellen, als sei er nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob er krank ist oder nicht. Ich denke, ich bin ihm eine Entschuldigung und eine Erklärung schuldig, nur ich weiß nicht, wie er reagieren wird. Ich glaube, er hat Angst vor mir, nach dem, was vorletzte Nacht passiert ist... Daher denke ich, ich sollte nicht alleine zu ihm gehen. Ihr seid doch befreundet, oder? Außerdem, soweit ich weiß, ist er ja ein Mönch, und ich will es nicht so aussehen lassen, als würde ich seine Gelübde kompromittieren wollen."


    Kal Su sah Kilian fragend an.


    "Klingt das verrückt?" Sie lachte leise. "Wahrscheinlich schon, oder? Ich habe Valentin ein wenig beobachtet in der letzten Woche, seit mir aufgefallen ist, dass er ... sich Fragen zu stellen schien. Ich habe den Eindruck, er schläft schlecht und von dem bisschen, was ich ihn essen sehe, würde selbst eine Maus verhungern. Ich... ich hätte ihn selbst ansprechen und nicht gleich vor die Rektorin zerren sollen. Aber... ach verdammt, Diplomatie ist einfach nicht meine Stärke. Ich bin Schlachtenheiler, mehr oder minder, da gewöhnt man sich ab, lange zu überlegen, sondern handelt einfach. Für Komplikationen sind andere zuständig..."


    Sie warf Kilian wieder einen schrägen Blick zu und seufzte.


    "Naja, auf jeden Fall hab ich Madame Lesson gesagt, dass ich ihm etwas von Mutter Corrientes Hühnersuppe bringe, sobald der Unterricht für heute beendet ist. Würdet Ihr mit mir zu Valentin gehen? Wenn Ihr nichts dagegen habt, könnten wir alle drei zusammen essen und ich bräuchte das, was ich Valentin noch zu erklären versprochen habe, nur einmal sagen. Irgendwann kommt es ja doch alles heraus."

    Nach dem Unterricht machte sich Kal Su sofort auf den Weg zu Signora di Corrientes, um die Hausmutter um eine große Portion ihrer berüchtigten Allzweckwaffe namens Hühnersuppe zum Abendessen für Valentin zu bitten. Daraufhin machte sie sich auf den Weg in Richtung des Krankentraktes, als ihr etwas einfiel. Für Valentin musste es so ausgesehen haben, als wolle sie ihn vor Madame Lesson bloßstellen, sein Urteilsvermögen in Frage stellen. Sie hatte ihn behandelt, als sei er ein trotziges kleines Kind, das nicht weiß, was gut für es ist. Kal Su widerstand dem Drang, ihren Kopf gegen eine Mauer zu hauen.
    "Ich Esel!", knurrte sie. Wenn sie sich hiermit nicht jede Chance verscherzt hatte, mit dem jungen Mönch gut klarzukommen, dann wäre es wirklich ein Wunder.
    Zu ihrer Rettung kam ihr ein bekanntes Gesicht entgegen. Einen Moment musste Kal Su in ihrem Gedächtnis nach dem dazugehörigen Namen kramen, doch dann fiel er ihr wieder ein.
    "Kilian! Gut dass ich Euch treffe. Ich bräuchte Eure Hilfe, wenn Ihr gerade Zeit hättet. Es geht um Bruder Valentin."

    Auf die Aufforderung hin öffnete Kal Su die Tür und schob Valentin vor sich hindurch.
    "Madame Lesson, ich möchte Euch bitten, dass Ihr Valentin für's Erste vom Unterricht freistellt, er ist krank."
    Mit einem kurzen Seitenblick auf den jungen Mönch fügte sie hinzu "Aber zu stur um das einzusehen, befürchte ich."
    Ihr Gesicht nahm einen schuldbewussten Ausdruck an.
    "Und ich fürchte, an dem Fieber bin ich Schuld. Ich hatte Valentin draußen etwas zeigen wollen, dabei ist er im Schnee gestürzt."
    Kal Su hoffte, dass Valentin es bei dieser stark gekürzten Variante der Wahrheit belassen würde - gelogen hatte sie schließlich nicht. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ob sie die energische Frau schon über ihr 'kleines' Geheimnis informiert hatte oder nicht.
    "Ich werde mich nach dem Unterricht gerne darum kümmern, ihm heiße Suppe und Tee zu bringen, wir haben unsere Zimmer ja beide auf dem selben Flur."
    Sie legte eine Hand wieder auf die Türklinke.
    "Wenn Ihr mich entschuldigt, ich muss zu meinem nächsten Kurs."
    Schnell schlüpfte sie aus der Tür und eilte die Gänge entlang, um noch rechtzeitig zum Unterricht zu kommen.

    Kal Su verabschiedete sich respektvoll von Mordenkainen und ging schnellen Schrittes den Flur hinunter, um zu Valentin aufzuschließen. Kal Su hatte ihn während der Stunde ein wenig im Auge behalten, weil sie sehen wollte, wie er auf Mordenkainens Worte reagierte. Der junge Mönch hatte etwas unkonzentriert gewirkt, als hätte er aus irgendeinem Grund Mühe, den Ausführungen des Dozenten zu folgen. Und jetzt, im Gang, sah er die vorbeigehenden Schüler mit großen, erschreckten Augen an, als hätte sich jeder Einzelne von ihnen vor seinen Augen in eine widernatürliche Monstrosität verwandelt.
    Kal Su legte Valentin leicht eine Hand auf die Schulter und er zuckte unter ihrer Berührung zusammen, bevor er sich zu ihr umdrehte.
    "Valentin, nur weil Ihr nun wisst, dass Were und Wandler keine Mythen sind, braucht Ihr nicht hinter jedem Lächeln ein Maul voller Reißzähne zu sehen. Es gibt nur wenige von uns und dass in dieser kleinen Akademie gleich zwei Gestaltwandler leben, ist wirklich nichts als ein großer Zufall. Und ich glaube nicht, dass es doch noch mehr sind."
    Erst jetzt bemerkte Kal Su, dass das Gesicht ihres Gegenübers förmlich zu glühen schien, was jedoch sicher nicht am Enthusiasmus über den eben gehörten Vortrag lag. Bevor Valentin protestieren konnte, legte Kal Su ihm eine Hand auf die Stirn.
    "Ihr habt Fieber, Valentin. Ihr gehört ins Bett, nicht ins Klassenzimmer, sonst steckt Ihr noch jemanden an! Wir gehen jetzt zu Madame Lesson, da meldet Ihr Euch mindestens für die nächsten drei Tage ab und dann geht Ihr in Euer Zimmer und verkriecht Euch unter der Bettdecke. Euer Zimmergenosse kann Euch dann später Hühnerbrühe bringen. Oder ist der auch schon ins neue Gebäude umgezogen? Wenn ja, übernehme ich das, dann kann ich Euch auch gleich den Rest der Geschichte erzählen, sofern es Euch interessiert."
    Ohne Valentins Antwort abzuwarten, umfasste sie sein Handgelenk und zog ihn zum Verwaltungstrakt. Dort angekommen klopfte sie energisch an Madame Lessons Tür und wartete darauf, dass die Lehrerin öffnete.

    Kal Su nickte.
    "Ihr vermutet richtig. Meine Mutter war eine Wolfswandlerin. Mein Vater war jedoch ein Mensch, was dazu führte, dass ich im Clan meiner Mutter nicht akzeptiert wurde. Meine Mutter starb, als ich noch klein war, ich wurde von einem Orden aufgezogen, wo man mich zu meinem großen Glück akzeptierte wie ich war, mir aber gleichzeitig auch die Wichtigkeit der Selbstkontrolle beibrachte. Mein gemischtes Blut macht es mir auch unmöglich, mich vollständig zu verwandeln; Valentin hatte angefangen, Verdacht zu schöpfen, daher hielt ich es für das Beste, ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Eure Lektion kam für ihn ein wenig spät. Er war... ein wenig schockiert."
    Kal Su senkte den Blick.
    "Ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel."

    Die heutige Unterrichtsstunde war für Kal Su das mit Abstand faszinierndste, was sie bisher an der Akademie erlebt hatte. Als Mordenkainen einen der Mitschüler - und nicht den dünnsten - mitsamt Stuhl anhob (der Schüler krallte sich mit geweiteten Augen an seinem Sitz fest), begann Kal Su, ein wenig nervös zu werden. Hatten sich Mordenkainens Augen in diesem Moment nicht mit einem leisen Lächeln auf ihr Gesicht geheftet? Sie begann, sich unwohl zu fühlen. Der Lehrer brauchte seine Dominanz gar nicht zu demonstrieren, Kal Su würde nie auf die Idee kommen, seinen Rang in Frage zu stellen.
    Als er das Wort 'Bär' erwähnte, wurde Kal Su ein wenig blass und hätte sich am liebsten ganz klein gemacht. Doch da dies unterwürfige Verhalten in einem Raum voller ahnungsloser Menschen unnatürlich und auffällig gewesen wäre, ließ sie es bleiben und beschränkte sich darauf, vor dem Lehrer den Blick zu senken.
    Nach Ende der Stunde passte sie unauffällig Valentin an und flüsterte ihm zu:
    "Glaubt Ihr mir jetzt, was ich gestern gesagt habe?"
    Dann trabte sie Mordenkainen hinterher.
    "Magister, darf ich Euch noch etwas fragen? Ich hatte es nicht vor der ganzen Klasse ansprechen wollen, da es... persönlich ist." Sie holte einmal tief Luft, behielt ihren Blick dabei aber demütig gesenkt, so dass sie dem großen Elfen ihren ungeschützten Nacken darbot, in der Hoffnung, dass die Geste für ihn eindeutig genug war.
    "Ich war sehr froh, dass dieses Thema zur Sprache gekommen ist und ich bin Euch dankbar, dass Ihr die Unterschiede so deutlich vermittelt habt. Versteht mich bitte nicht falsch, ich will Euer Wissen und Eure Autorität in keinster Weise in Frage stellen, doch ich kann Euch nicht zustimmen, wenn Ihr Werwesen als böse bezeichnet. Zuerst einmal können sie nichts dafür, dass sie gebissen wurden, und da sie daher gewissermaßen unschuldig sind, auch wenn sie unter Einfluss des Vollmonds dem Tier freien Lauf lassen müssen, kann ich sie nicht als böse ansehen. Sie sind krank und ich habe Mitleid mit ihnen."
    Kurz sah sie zu Mordenkainen hoch, bevor sie fortfuhr, ihre Stimme immer noch leise und respektvoll.
    "Ich hatte außerdem den Eindruck, dass Ihr diese Lektion mit solcher Vehemenz vermitteln wolltet, damit einige Schüler erst über Eure Worte nachdenken und nicht über Legenden, sollten sie eines Tages in Kontakt mit einem Gestaltwandler kommen. Gehe ich also recht in der Annahme, dass Ihr über mich Bescheid wisst, Magister?"

    Kal Su sah den jungen Mönch reglos an.
    "Ich leide unter bitte was? Ihr versteht mich falsch. Lykantrophie ist eine Krankheit, Werwesen leiden unter einer Art Krankheit, aber Gestaltwandler sind nicht krank. Gestaltwandler bewirken ihre Veränderung durch Magie oder aber sind, wie in meinem Fall, eine eigenständige Rasse. Das ist ungefähr so, als würdet Ihr Gwaew-gedo sagen, er leide an Elfischkeit."
    Sie grinste wölfisch.
    "Obwohl, ich stünde gerne daneben, wenn Ihr das versucht..."
    Ihre Augen funkelten amüsiert. Doch sie wurde übergangslos wieder ernst.
    "Natürlich könnt Ihr nichts dafür, wie Ihr aufgewachsen seid, doch Eure Erziehung sollte Euch nicht daran hindern, Euren Kopf zu benutzen. Ihr sagt selbst, Ihr kennt viele Dinge nicht, also solltet Ihr auch nicht stets davon ausgehen, dass etwas Fremdartiges zwingend schlecht ist. Natürlich ist Vorsicht nichts Falsches, doch viele, nicht nur Wesen wie ich, hätten Euren Versuch, sie mit dem Kreuz auf Abstand zu halten, als Beleidigung aufgefasst, da Ihr sie damit de facto als Dämon bezeichnet."
    Sie nahm Valentin den zur Hälfte schneebedeckten Umhang aus der zitternden Hand und schlug ihn einmal kräftig aus. Dann warf sie das Kleidungsstück dem perplexen Mönch wieder zu.
    "Ihr braucht den grad nötiger als ich, mir ist nur an den Füßen etwas kalt."
    Sie trat einen Schritt näher an Valentin heran und sah ihm prüfend ins Gesicht.
    "Werdet Ihr krank? Ihr seht nicht gut aus, Ihr seid zu dünn und Ihr wirkt, als hättet Ihr schon wochenlang keine Nacht mehr durchgeschlafen. Ich will nicht der Auslöser sein, wenn Ihr jetzt ernstlich krank werdet. Und bevor Ihr jetzt auf die Idee kommt, dass es nicht ritterlich wäre, wenn Ihr meinen Mantel nehmt, erstens seid Ihr meines Wissens kein Ritter und zweitens seid Ihr dabei, fast zu erfrieren. Also hört auf zu diskutieren.", knurrte sie, ungeachtet der Tatsache, dass Valentin noch nicht einmal angefangen hatte zu diskutieren.
    "Aber lasst uns nach drinnen gehen, Ihr solltet schlafen gehen, dann reden wir morgen weiter. ich denke, Ihr werdet immer noch einige Fragen haben."
    Kal Su stellte die Laterne auf den Boden und trat ein paar Schritte rückwärts, bis ihre Umrisse wieder von den Schatten verschluckt wurde. Wieder schien die Luft um ihre Gestalt kurz zu schimmern, dann trat Kal Su wieder in den Lichtkreis ihrer kleinen Laterne. Ihre Gestalt war wieder menschlich, ihre blasse Haut unterstrich noch, wie wenig sie eigentlich anhatte; doch ein paar Dinge verrieten immer noch ihre Andersartigkeit: ihre Ohren waren spitz, jedoch nicht nennenswert größer als die eines Menschen und ihre Augen hatten immer noch den selben Bernsteinton wie vorher. Kal Su bemerkte Valentins Blick und schnaubte leise.
    "Könnt Ihr verstehen, dass ich mich so nicht allzu gern zeige? Mein 'normales' Aussehen ist schon verräterisch genug, dass ich es unter Magie verstecken muss, um nicht dauernd als Dämon oder Hexe verschrien zu werden."
    Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie an Valentin vorbei und steuerte auf das Gebäude zu, das die Zimmer der Schüler beherbergte.
    "Gute Nacht. Wir sehen uns morgen beim Unterricht.", flüsterte sie noch.

    Kal Su knurrte zornig, als der Mönch ihr mit panisch geweiteten Augen das hölzerne Kreuz entgegenstreckte.
    "Narr! Glaubt ihr, das könnte Euch retten?", schleuderte sie Valentin entgegen. "Ihr seid doch alle gleich! Kaum seht ihr etwas, das ihr nicht versteht, so muss das gleich etwas Böses sein, vor dem euer Gott euch schützen soll."
    Doch als der junge Mann vor ihr ohnmächtig zu Boden sank, verrauchte ihre Wut. Er war so verängstigt gewesen. Kopfschüttelnd hockte Kal Su sich neben ihn und sah nachdenklich auf Valentin herunter.
    "Idiot.", murmelte sie. Vorsichtig schob sie eine Hand unter seinen Kopf und vergewisserte sich, dass er sich bei dem Sturz zumindest nicht den Schädel eingeschlagen oder sich eine Platzwunde zugezogen hatte. Eine Beule würde er wohl davontragen, aber mehr nicht, zu seinem Glück. Kal Su legte ihren Umhang einmal der Länge nach gefaltet auf den verschneiten Boden und zerrte den Bewusstlosen unzeremoniell darauf, damit er sich zu seiner Beule nicht auch noch eine Erkältung holte. Dann kniete sie sich wieder neben ihn und schlug ihm immer wieder vorsichtig ins Gesicht, bis er anfing zu blinzeln.
    Als Valentin wieder zu sich kam und versuchte, sich aufzusetzen, drückte Kal Su ihn mit einer Hand wieder zurück.
    "Ihr geht jetzt erst einmal nirgendwo hin, bevor Ihr mir nicht zugehört habt, Bruder Valentin."
    Sie fixierte sein Gesicht aus glühenden Bernsteinaugen.
    "Was hattet Ihr erwartet, dass Ihr mit einer zerbissenen Kehle wieder aufwacht? Ich mag nicht mehr aussehen wie ein Mensch, aber ich bin kein Monster.", stellte Kal Su ruhig fest. Valentin machte keine Anstalten wegzulaufen, wahrscheinlich hatte er zuviel Angst. "Und bevor Ihr fragt, nein ich bin kein Werwolf, ich bin auch zum Glück kein Lykantroph, ich bin ein Gestaltwandler. Ist ein elementarer Unterschied, der Unterschied, der Euch auch gerade das Leben gerettet hat. Aber das kann ich Euch zu einem anderen Zeitpunkt in Ruhe erklären."
    Kal Su seufze leise, ein Laut, der aus dieser nichtmenschlichen Kehle rauh und finster klang.
    "Ich war hierher gekommen, weil ich gehofft hatte, dass genau so etwas eben nicht passiert. Ich hatte gedacht, hier würden alle nur sehen, dass ich lernen will, dass ich eine gute Heilerin sein will. Ich hatte gehofft, dass hier nur zählt, was ich tue und nicht die Tatsache, dass ich anderes Blut in meinen Adern habe."
    Die Tirade schien Kal Su erschöpft zu haben. Sie erhob sich, wandte sich von Valentin ab und stapfte ein paar Schritte durch den leise knatschenden Schnee. Sie drehte sich wieder um und sah zu Bruder Valentin hinüber, der sich mittlerweile aufgesetzt hatte und langsam zu realisieren schien, dass er noch am Leben war. Langsam, um ihn nicht wieder in Panik zu versetzen, ging Kal Su wieder auf ihn zu.
    "Was haltet Ihr davon, wenn wir den Rest auf morgen verschieben, bevorzugt irgendwo drinnen in der Nähe eines Feuers? Langsam bekomme ich kalte Pfoten."

    Der folgende Tag war kalt, ein beißender Nordwind wehte vom Meer bis weit ins Landesinnere und sogar der Fluss, der das Protektorat zu den Nachbarn im Westen, Norden und Osten abgrenzte, hatte sich eine hauchdünne Eishaut zugelegt.
    Kal Su verbrachte den Tag wie immer mit Kursen und Vorlesungen und sie war froh, heute zumindest tagsüber nicht nach draußen zu müssen. Es schneite nicht, aber das lag nur daran, dass es einfach zu kalt für Schnee war.
    Valentin war ihr heute zwar nicht direkt aus dem Weg gegangen, hatte es aber tunlichst vermieden, sie anzusehen und Kal Su fragte sich insgeheim, ob der junge Mann überhaupt zu dem Treffpunkt kommen würde. Vielleicht hatte er die Mitteilung falsch aufgefasst und glaubte nun, dass sie irgendwelche unschicklichen Dinge mit ihm vorhatte? Der Gedanke ließ Kal Su leise lachen. Nichts wäre weiter von der Wahrheit entfernt. Wahrscheinlich würde er nach dem, was sie vorhatte, für den Rest seines Lebens nie mehr in ihre Nähe kommen wollen.
    Der Tag ging vorbei und nach dem Abendessen zogen sich alle Schüler in ihre Zimmer zurück. So auch Kal Su. Sie vertrieb sich die Zeit mit einem der Lehrbriefe zur Magietheorie, die ihr ihr alter Meister Vier Winde mitgegeben hatte. Immer wieder musste sie über die Wortwahl des Magiers schmunzeln, Vier Winde schrieb wie er redete, ganz einfach wie ihm der Schnabel gewachsen war und seine Worte waren zwar manchmal derb, aber doch stets treffend.
    Die Nacht schritt fort und es wurde zunehmend stiller im Haus. Sie sah aus dem Fenster. Der Mond, auf dem halben Weg von einer runden, leuchtenden Scheibe zu einer kaum sichtbaren silbrigen Sichel, hatte sich hinter einem Wolkenfetzen verkrochen. Kal Su verzog das Gesicht. Sie sah nachts nicht besonders gut, noch ein beschämendes Versagen in den Augen des Clans ihrer Mutter.
    Sie stand von ihrem Bett auf und tauschte ihr schlichtes wollenes Kleid, das sie den Tag über getragen hatte, gegen ein schlichtes schwarzes Mieder aus einem groben Leinenstoff aus, dazu ein Rock, der kaum mehr war als zwei Dreiecke des gleichen Stoffes, an zwei Ecken zusammengenäht und gehalten von einem Gürtel. Beide Teile waren so geschnitten, dass sie nicht in der Bewegungsfreiheit behinderten und dennoch keine zu tiefen Einblicke zuließen. Kal Su öffnete die Gürtelschnalle noch einmal, um ihre Schwertscheide mit dem Dolch darin auf den Gürtel zu fädeln, dann schlüpfte sie barfuß in ihre fellgefütterten Stiefel und wickelte sich in ihren grauen Umhang. Sie hoffte, dass Valentin pünklich erscheinen würde, denn diese Aufmachung war kalt. Ungefähr eine Viertelstunde vor Mitternacht schlich sie sich zu dem vereinbarten Treffpunkt, wobei ihre kleine verbeulte Kupferlaterne ein schwaches, flackerndes Licht auf ihren Weg warf. Valentin war noch nicht da, was ihr zunächst einmal sehr recht war.
    Kal Su stellte die Laterne auf den Boden, stieß die Stiefel von ihren Füßen, konzentrierte sich, und hob das Gesicht zum Mond, der in just diesem Augenblick durch den Wolkenschleier brach. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf und entblößte ihr Gesicht. Die Luft um Kal Su herum flimmerte mit der wilden Magie, die sich um ihren Körper legte. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann trat sie hastig tiefer in die Finsternis hinter dem Backhaus und schlug die Kapuze wieder hoch.
    Es dauerte nicht lange und ihre Füße schienen sich in Eisklumpen verwandelt zu haben. Mit einem unwilligen Knurren stapmfte Kal Su auf der Stelle. Die Minuten schienen langsamer dahinzukriechen als eingefrorenen Schnecken. Doch nach einer Weile hörte sie Schritte die sich näherten. Eilige, dennoch unsicher zögernde Schritte. Der Mond war wieder verschwunden, so dass Kal Su nicht sehen konnte, wer sich dem Backhaus näherte, doch eigentlich konnte es niemand anderes als Valentin sein. Es sei denn, der hatte im wahrsten Sinne des Wortes kalte Füße bekommen und schickte nun jemand anderes vor.
    Kal Su trat einen kleinen Schritt hinter der Rückwand des Hauses vor und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Mühsam konnte sie eine schmale Gestalt in einer dunklen Robe ausmachen. Sah nach Valentin aus, zumal die Gestalt direkt auf sie zuhielt. Einen Augenblick später erkannte Kal Su den jungen Mönch. Er wirkte fast ein wenig ängstlich stellte sie fest. Sie schlich ein paar Meter rückwärts, tiefer in die Schatten hinein, bis der junge Mann die Rückseite des Hauses erreicht hatte und sich umsah.
    "Valentin!", zischte sie leise.
    Er zuckte zusammen und sah in ihre Richtung. Sie trat auf ihn zu, bis sie sein Gesicht einigermaßen deutlich erkennen konnte, aber achtete weiter darauf, dass ihr ganzer Körper von dem Umhang verborgen wurde. Seine Augen hefteten sich auf die Schatten unter ihrer Kapuze.
    Kein Zurück mehr. Sie hatte sich hierauf eingelassen, nun musste sie es auch zu Ende bringen, egal welche Konsequenzen sich daraus für sie ergeben würden.
    Sie hockte sich hin, hob unter dem Umhang eine Hand an den hölzernen Knebel, der den Umhang an ihrem Hals verschloss und öffnete ihn. Dann richtete sie sich wieder auf, wobei sie ihre Laterne hochhob, sodass der flackernde Kerzenschein auf ihren Körper fiel. Ihr Umhang blieb wie eine graue Pfütze effektvoll zu ihren Füßen liegen.
    Sie sah, wie Valentins Augen sich ungläubig weiteten, obwohl sie nicht sicher sagen konnte, wieviel er in der Dunkelheit überhaupt von ihr erkennen konnte. Vielleicht rührte sein fassungsloser Blick auch nur von ihrer knappen Bekleidung her, dachte sie mit einem unterdrückten Grinsen.
    Sie trat einen Schritt auf ihn zu, die Laterne immer noch so erhoben, dass er sie gut sehen konnte.
    Ihr Körper war muskulöse, gedrungener. Nase und Kiefer hatten sich nach vorn geschoben und eine kurze Schnauze geformt. Ihre Augen waren nicht mehr grün sondern leuchteten bernsteingelb. Ihre Finger waren kürzer und dicker geworden und an jedem Ende mit einer stumpfen Kralle bewehrt. Ihre helle Haut war von kurzem bräunlichen Fell bedeckt, jedoch von ihren Wangenknochen bis zu ihrem Bauch war das Fell hell, fast weiß.
    Ihre gesamte Gestalt wirkte unfertig, als sei sie bei der Verwandlung vom Mensch zum Wolf irgendwo in der Mitte steckengeblieben.
    Kal Su fixierte Valentin und trat einen Schritt auf ihn zu.
    "Nun, ist Eure Neugier befriedigt?"
    Ihre Stimme hatte ihren menschlichen Klang verloren und war zu einem kehligen Knurren geworden.
    Kal Su sah Valentin an und wartete darauf, dass er scheiend wegrannte. Wie es so viele taten.

    Kal Su mochte die Kräuterkunde-Stunden bei Mordenkainen, sie hatte schon vor vielen Jahren angefangen, sich ein wenig Wissen in dieser Richtung anzueignen und war nun froh, endlich ihr mageres Wissen erweitern zu können. Doch die anderen Schüler hatten nicht Unrecht. Mordenkainen gab zwar recht wenig Hausaufgaben auf, doch die hatten es meist in sich. Man durfte die Gedanken in seinem Unterricht keine Minute abschweifen lassen, wenn man die von ihm gestellten Aufgaben zu seiner Zufriedenheit lösen wollte. Dennoch, besser ein strenger Lehrer als gar keiner.
    Beim Essen hing Kal Su wie üblich ihren eigenen Gedanken nach und achtete wenig auf das Lachen und die Gespräche der anderen Schüler. Die heiße Brühe tat gut nach der Kälte des Waldes und das Brot war noch warm, so frisch kam es aus dem Ofen.
    Ein dumpfer Zusammenstoß, gefolgt von einem Platschen, gefolgt von einer leisen Entschuldigung ließ Kal Su kurz aufsehen. Einer der Schüler - Kal Sus miserables Namensgedächtnis hatte es ihr immer noch nicht gestattet, sich alle Namen zu merken - war offenbar mit Valentin zusammengestoßen und hatte dessen Brot in die Brühe fallen lassen. Kurz bevor sie den Blick wieder auf ihr eigenes Essen senkte, begenete Valentin ihrem Blick und es schien eine Frage darin zu liegen. Kal Su war es nicht entgangen, dass der junge Heiler sie öfter mit diesem etwas fragenden Ausdruck ansah, vor allem wenn er glaubte, sie merke es nicht. Also hatte er Verdacht geschöpft. Nun gut, früher oder später musste sie ihre Herkunft so oder so offenlegen.
    Sie stand vom Tisch auf, räumte ihr benutztes Geschirr weg und ging zurück in ihr Zimmer. Dort schrieb sie schnell eine kurze Notiz auf ein Stück Papier, dann eilte sie den Gang hinunter zu der Tür von Valentins Kammer und schob das Papier darunter hindurch.


    Morgen
    Mitternacht
    hinter dem Backhaus
    Kal Su

    Am nächsten Morgen saß Kal Su schon sehr früh beim Frühstück und knabberte gedankenverloren an einer Scheibe Brot mit Honig, die Augen in die Ferne gerichtet. Sie wirkte müde.
    Später, als der Schneefall aufgehört hatte und die Sonne schon fast untergegangen war, verließ Kal Su die Akademie um die Schönheit der Winterlandschaft zu genießen. Sie fühlte sich ein klein wenig schuldig, dass sie sich diese Zeit nahm, doch zur Zeit war sie bei den Patienten der Akademie keine Hilfe. Sie war unkonzentriert, so dass selbst die einfachsten Zauber scheiterten und der Geruch von Blut und Krankheit, der aus einigen Räumen kam, verursachte ihr eine leichte Übelkeit, die sie noch unkonzentrierter werden ließ. Und sie wollte es nicht riskieren, für einen Fehler verantwortlich zu sein.
    Kal Su zog ihren grauen Umhang enger um sich, dessen Saum im frischen Schnee schleifte und schaute nachdenklich gen Norden. Sie fühlte sich wohl in der Akademie, hier wurde sie nicht nach ihrer Herkunft be- oder verurteilt, hier sah man nur die Heilerin. Ihre Unterbringung war warm, das Essen war gut und sie hatte endlich die Gelegenheit, ihre Kenntnisse zu erweitern.
    Doch was ihre Herkunft anging, das Erbe ihrer Mutter, so war sie sich unsicher, wie die anderen Schüler reagieren würden. Gwaew-gedo hatte es wortlos hingenommen, Akluto, der sie von allen Angehörigen des Lazaretts schon am Längsten kannte, behandelte sie mit dem ihm eigenen Pragmatismus und Humor, Aurora schien sie sehr interessant zu finden, und ob Madame Lesson überhaupt Bescheid wusste, wusste Kal Su nicht mehr aus dem Kopf.
    Aber die anderen Schüler? Sie kannte weder Valentin noch Kilian gut genug, um sie wirklich einschätzen zu können. Nett waren sie ja bisher gewesen, doch Valentin schien ein Ordensbruder zu sein und mit denen hatte sie bisher nahezu ausnahmslos schlechte Erfahrungen gemacht.
    Sie blieb noch eine Weile unter den schneebedeckten Bäumen stehen, bis die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwunden war, dann machte sie sich auf den Rückweg in die Schule, um bei den Vorbereitungen für das Abendessen zu helfen.