Beiträge von Dormen

    Sie nickte. Je näher sie dem Schneehaufen kam, desto mehr wirkte er tatsächlich wie ein schneebedeckter, kleiner Hügel, den man wohl schnell umrunden konnte.


    "Wie willst du genau vorgehen, wenn wir da sind?"


    Sie presste die Lippen aufeinander und blickte die wenigen Meter nach vorne, die sie freie Sicht hatten. Die ganze Sache konnte vielleicht ziemlich halsbrecherisch werden.

    "Ich auch."


    Sie lächelte zurück und küsste ihn.


    "Ich gehe dahin, wo du hingehst."


    Dann drückte sie seine Hand fest und sah in die gleiche Richtung.
    Auch sie konnte auf der Ebene nur eintöniges Weiß erkennen und war froh darüber. Aber bald würde es dunkeln und die Sicht einschränken. Dormen sah sich um. Rechts von ihnen wirkte der Schnee wie aufgetürmt. Vielleicht lag ein kleiner Fels darunter. Links huschte in der Entfernung etwas über den Boden, aber vielleicht hatte sie sich nur verguckt.


    "Nach rechts oder nach links?"

    Sie nickte Silas zu. "Dann gehe ich mit." Sie war für die Bewegung dankbar, denn so froren die Füße nicht ein. Murdo hatte recht: Besser jetzt vorsichtig sein, als in der Nacht eine noch eisigere Überraschung erleben.
    Ein wenig skeptisch sah sie zu Fjörnir und seiner Buddelei. "Bruder Silas, vielleicht passt du auf, dass Fjörnir sich nicht selbst eingräbt? Im Dunkeln finden wir den nie wieder." Sie zwinkerte und drehte sich zu Murdo.

    "Auf jeden Fall sollte es warm genug werden, damit uns Bruder Fjörnir ein Schneeabenteuer erzählen kann."


    Dormen schloss wieder zur Gruppe auf. In ihrem dicken, gefütterten Kapuzenmantel sah sie wie ein aufgeplusterter Schneevogel aus, aber immerhin hielt er die Kälte ein wenig auf Abstand.


    "Wie fangen wir mit dem Bauen an?"

    "Darauf aufzupassen war keine Kunst, damit umzugehen ist eine."


    Sie schluckte.
    Ihr schien es, als hätte sich die Umgebung in den letzten wenigen Minuten verändert. Das Licht schien anders. Alle Gegenstände, selbst die runden Kerzen wirkten grell und spitz.


    "Ich komme mit dir raus."


    Sie nahm seine Hand und blickte sich in der Kapelle um.


    "Ich denke, ich habe hier für den Moment nichts mehr zu erledigen."

    Sie seufzte und blickte in die gleiche Richtung. Dann griff sie seine Hand und ging mit ihm gemeinsam zur Vitrine. Prüfend glitten ihre Augen über das Schwert.


    "Alles wie hinterlassen. Die Kapelle hier ist ein sicherer Ort. Und ein guter."


    Sie dachte kaum an die kommenden Wochen. Wenn sie es versuchte, kamen ihr keine klaren Bilder in den Kopf. In ihrem Blick lag eine ahnungslose Erwartung.

    Sie nickte. Den Tag des Aufbruchs hatte sie gefürchtet. Die Zeit im Süden erwartete sie mit gemischten Gefühlen. Sie konnte nicht sagen, dass sie optimistisch war, bekannte aber auch nicht das Gegenteil.


    "Wenn der Glaube hält, dann hält die Welt."

    Und wenn der Glaube wankt, dann wankt die Welt.


    Es war eine klare Rechnung.
    Sie hielt seine Hand fest und drehte die Handfläche nach oben. Mit der zweiten Hand griff sie in die Tasche, tastete nach dem richtigen Schlüssel und zog ihn heraus. Unfeierlich legte sie ihn in seine Hand.

    Sie lehnte ihr Gesicht an seine Hand und ließ sich den Wind aus den Segeln nehmen. Sie schloss die Augen und dachte, sie könne ihr Herz schlagen hören.


    "Ich kann dich ja doch nicht aufhalten..."


    Sie hoffte, dass er seinen eigenen Worten Vertrauen schenkte. Sie hatte keine andere Wahl, als es zu tun. Hilflos sein tat weh.


    "Sollte es jemanden geben, der lebensmüde genug ist den Helden spielen zu wollen, dann leg deine Hand bitte nicht zwischen Hammer und Amboss."


    Ihre Sorge war ernst gemeint.

    Dormen spähte zur Vitrine und dachte einen kurzen Augenblick nach. Insgeheim hatte sie gehofft, das Schwert würde dort bleiben, ein Anschauungsgegenstand, ein Zeichen gewaltsamer Zeiten. Sie hatte sich gewünscht nur hin und wieder mal zu der Vitrine gehen zu müssen, um alten Staub beiseite zu wischen.
    Ihre Hand tastete nach dem Inhalt einer Tasche, die sie am Gürtel trug und erfühlte einen Bund mit mehreren Schlüsseln.
    Ihr Blick wanderte zurück zu Murdo.


    "Wo wirst du mit dem Schwert stehen?"


    Die Frage war nicht böse gemeint. Aber sie spürte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

    Sie drehte sich zu der vertrauten Stimme um und schaute Murdo an. Dann warf sie einen erneuten, kurzen Blick auf den Engel.


    "Ja, hat er.",


    sagte sie leise und sanft.


    "Etwas über den Verstand und die Vernunft. Und über das Herz und über die Macht. Wir hatten heute Mittag ein langes Gespräch."


    Sie lächelte ein wenig versonnen.


    "Was führt dich her? Möchtest du beten?"

    Murdo sah Dormen durch den Seiteneingang die Kapelle betreten. Sie trug zwei kleine umflochtene Fläschchen in den Händen, die sie an beiden Seiten des Altars aufstellte. Durch die schmale Öffnung drang ein angenehmer, beruhigender Duft, der rasch den Altarraum ausfüllen würde.


    Dormen war in Gedanken, fühlte sich leicht gereizt und nahm ihre Umgebung nur bedingt wahr. Sie stützte die Hände auf den Altar und kniff die Augen zusammen.
    Einen Moment stand sie so da, hob dann den Kopf, öffnete die Augen wiedr und sah auf die Engelsabbildung hinter dem Altar, die stets mit freundlichen Gesichtszügen zurückblickte.
    Ein paar Sekunden vergingen. Dormen seufzte kurz. Als sie sich wieder umdrehte, wirkte sie gelöster.

    Der alte Mann schaute den Gardisten, der ihn angesprochen hatte, mit großen Augen an.


    "Danke, aber ich brauche gerade keine Hilfe, denke ich."


    Er lachte und zeigte die Zähne. Er wies mit dem Finger in eine Richtung, die ihn vom Platz wegführen würde.


    "Da werde ich entlang gehen. Ich möchte zu meiner Frau und meiner Werkstatt. Ich kenne ja den Weg, ich kann nur nicht schnell laufen."


    Er besann sich auf das, was ihm wichtig war und lächelte selig.
    Vielleicht wirkte er etwas wirr.


    "Ich bin hier angekommen, habe mich umgesehen und herausgefunden, dass mir der Platz hier etwas fremd ist. Außerdem bin ich ein wenig müde. Lasst mich bitte einfach nach hause gehen."


    Er bedankte sich für die Aufmerksamkeit und schlenderte los.

    Im hinteren Teil der Menge trat ein alter Herr langsam von einem Fuß auf den anderen.
    Seine Zeit war knapp bemessen, er hatte viele Dinge zutun und die Wege waren im Alter mühsam geworden. Deswegen wagte er den Gang hinaus – abgesehen von seinen Besuchen an den Spieltischen der Taverne – nur noch selten. Er hatte den Platz spät erreicht, die Ereignisse waren ihm vorausgeeilt und er war ihnen nicht ganz folgen können.
    Er hörte Gerede und Beschuldigungen in der Menge die Runde machen und verstand den Trubel nicht.


    Was war denn passiert? Ist jemandem sein Spielbrett um die Ohren geflogen?


    Er lauschte weiter.


    Was er bis heute gehört hatte, waren nur Meinungen gewesen, nur Gedanken, ehrliche Gefühle, die jedem zustanden. Aber das, was er hier auf dem Platz hörte, war Propaganda, die hinterhältiger drohte als jedes Schwert..


    Vor dem Hintergrund eines Attentats wurden Rechtfertigungen gefunden, um Andersdenkenden bösartigen Fanatismus zu unterstellen. Da passt ein Attentat, im Nachhinein inszeniert, natürlich prima ins Bild.


    Er spuckte aus.


    Die wahre Wahrheit... Wer kannte die schon, wenn es sie überhaupt gab... Wer hätte das Recht zu behaupten sie zu kennen oder anderen Menschen gar Lehren darüber zu erteilen... Hochmütige, aufstrebende Machtmenschen, er hatte sie zuhauf gesehen. Früher hatte er sie verachtet, inzwischen war er dafür zu alt und begnügte sich damit, sie auszulachen. Wie arm war ein Land, das solche Helden nötig hatte.


    Die Starken finden ihr Licht in sich selbst. Nur die Schwachen brauchen einen Führer.


    Er schüttelte den Kopf, lehnte sich an die Hauswand hinter ihm und sah auf die Menschenmenge.
    Die Geschichte seines Landes würde ihm Recht geben. Dort herrschte seit vielen Jahren nur noch eine Meinung, denn alle anderen waren im Zuge einer „Neuen Zeit“ ausgerottet oder vertrieben worden.
    Als junger Mann war er der neuen Religion gefolgt, weil er dachte, sie wäre anders als die anderen. Jetzt, hier, auf diesem Platz, stellte er fest, dass er sich geirrt hatte. Er lachte dumpf und schalt sich, ein Idealist gewesen zu sein.


    Wenn selbst die Jungen nicht mehr erkannten, wann es Zeit war einzulenken und zu verstehen, dass Wahrheit immer nur eine Sichtweise war und niemals und von niemandem vereinnahmt werden darf, dann hatte er hier nichts mehr verloren.
    Er sah zu der grölenden Masse, die zu vereinnahmt war, ihre eigenen Ideen zu entwickeln und sich lieber selbst zu Knechten einer fremden Idee machte.


    Menschen sind dumm...


    Er lachte. Dann lauschte er wieder den Rufen und tippte sich an die Wange. Auch er hatte sich hin und wieder kritisch geäußert. War denn das schlimm? War denn die eigene Meinung nur noch etwas wert, wenn sie konform mit der Meinung der Obrigkeit lief? Er hatte die Befürchtung, zu viele Ordensleute hier dachten nur noch in Extremen.


    Er war ein friedliebender Mensch und hatte vor einiger Zeit beschlossen sich zurückzuziehen, um zu forschen und seiner Arbeit zu folgen. Doch es gab immer Unersättliche.
    Er lehnte beide Seiten ab. Den alten und den aufstrebenden neuen Fanatismus. Denn es war ihm klar, dass der Neue Weg kein offener, sondern ein radikaler geworden war, der nur eine Meinung kannte, die Wahrheit der Konfessoren.
    Der Mann lachte einige Augenblicke laut auf.
    Er liebte Sedekiel und er wusste, dass er ihn auch liebte. In seinem Antlitz versank jede Last. Die Konfessoren liebte er nicht und Sedekiel würde es ihm mit einem Augenzwinkern verzeihen.


    Der Mann blickte zum Himmel, der so weit war wie überall. Er wünschte sich, die Welt könne sich ein Stück dieser Freiheit heraustrennen. Seine Wahrheit kannte er gut genug. Er brauchte niemanden, der sie ihm vorkaute. Er lachte noch einmal, während er amüsiert den Kopf schüttelte.


    "Was für ein Zirkus..."


    Der Tag würde irgendwann dämmern. Möglicherweise würde es bald sehr dunkel werden. Er drehte sich um, um den Platz hinter sich zu lassen. Es war Zeit für ihn diese Manege zu verlassen.

    Dormen seufzte leise.


    „Ich habe immer einen Weg zu den Elementen gehabt, die Frage war überflüssig. Die Engel und die Elemente als Eins zu betrachten, widerstrebt mir, aber das ist eine religöse Frage, die nichts mit dem Thema hier zutun hat. Geh deinen Verbindung mit den Elementen weiter wie du möchtest, aber hör bitte auf so zutun als wäre deine Verbindung die einzig Wahre.“


    Sie schloss mit einem kurzen Lächeln.
    Sie dachte kurz nach, setzte erneut an und sagte ruhig:


    „Intuitive Verbindungen sind vielfältiger als es auf den ersten Blick scheint. Jedes Wesen bringt eigene Erfahrungen und Denkweisen und Gefühle mit, die schwerlich auf eine allgemeine Formel hinunterzubrechen sind. Ich denke, dass ein rein theoretisches Verständnis des Ganzen deshalb immer abstrakt bleiben wird. Wirkliches Verständnis kommt nur durch eigene Erfahrung und ja, ich denke, dass ich sie verstehen könnte.“


    Um die Seele eines Menschen kämpfen... Sie wusste nicht genau, welche Ebene er meinte und antwortete, was sie dachte.


    „Ich rede mit den Menschen. Darin besteht die... „Reinigung“, die ich kenne und anwende. Dahinter steht weder Druck noch Gewalt und es ist die einzige, die für mich akzeptabel ist.“


    Sie wartete einen Moment und setzte dann erneut an.


    „Die Arbeit mit Tieren ist eine Sache für sich. Ich halte es für sinnvoll, mögliche Risiken für alle vorher abzuwägen, soweit man sie abwägen kann. Ein Restrisiko wird sich vermutlich leider nicht ausschließen lassen.“

    "Den Seraphim zum Gruße, Kahina.",


    sagte sie freundlich und machte ein wenig Platz.
    Sie sah sich weiter um, bis ihr Blick an der auffälligen Gestalt hängen blieb. Ihre Stirn wurde kraus, sie konnte das Gesicht unter der Kapuze nicht sehen und auch sonst nicht viel.
    Vorsichtig stieß sie Kahina an und sagte leise:


    "Bevor ich überreagiere... Erkennt Ihr die Person dort hinten? Vermummte Gestalten sind mir suspekt."

    Dormen hatte zugehört und sich Gedanken gemacht.


    „Es gibt die Engel, die über allem stehen. Und es gibt darunter die Schöpfung. Menschen, Tiere, Elemente, alles gleich auf. Damit bin ich großgeworden.“


    Sie seufzte leise zu sich selbst.


    „Ich habe nie daran gezweifelt, dass Balachiel eines Tages zurückkehren wird. Er kennt den Weg, er ist ihn ja bereits einmal gegangen. Was die Schwestern und Brüder betrifft, die zurückgegangen sind... Mich schmerzt nicht die Tatsache, dass sie zurückgegangen sind, sondern dass sie es mussten. Vielleicht war das falsch. Hier wird allem die Hand gereicht, aber die eigenen Brüder und Schwestern mussten gehen. Obwohl sie treu zu den Engeln standen.“


    Sie konnte nicht leugnen, eine gewisse Verbundenheit zu einigen der Zurückgekehrten zu spüren.


    „Ich glaube nicht, dass dieser Weg die einzige Weiterführung des Weges ist, den ich von Samar kenne. Er ist nur ein Weg von vielen.“
    Sie kniff kurz die Lippen aufeinander und suchte nach einem Gedanken, den sie vorhin beiseite geschoben hatte.


    „Wo wir gerade bei den Kindern Balachiels waren... Seid Ihr der Nyame Nord bereits bewusst begegnet? Was haltet Ihr von ihr?“

    Dormen lächelte matt.


    "Ich bin nicht dumm. Dass du mir das mit den Pflanzen nicht vermitteln konntest, heißt nicht, dass es kein anderer könnte. Vielleicht kommt es auf die Methode an.
    Ich kann an meinen Schwächen arbeiten, du an den deinen, denn ein Falke erfordert neben einem offenen Geist mit großer Sicherheit auch viel Geduld."


    Sie zwinkerte leicht.


    "Mein Interesse und meine Motivation an dieser Sache haben nicht abgenommen. Ob ich dafür tatsächlich ungeeignet bin, kann sich herausstellen oder auch nicht. So wie bei allen anderen auch. Ich würde mich nur ungern von vorneherein davon ausschließen lassen."


    Sie blickte zu Kimberley und hoffte auf eine Chance, sollte Kimberley Davions Vorschlag zustimmen.

    „Der Neue Weg... Was ist das... für Euch?“


    Sie fragte ruhig und bewusst ausdruckslos, damit ihre Frage nicht von vornherein als Wertung verstanden wurde. Es fiel ihr schwer, aber sie gab sich Mühe.