Im hinteren Teil der Menge trat ein alter Herr langsam von einem Fuß auf den anderen.
Seine Zeit war knapp bemessen, er hatte viele Dinge zutun und die Wege waren im Alter mühsam geworden. Deswegen wagte er den Gang hinaus – abgesehen von seinen Besuchen an den Spieltischen der Taverne – nur noch selten. Er hatte den Platz spät erreicht, die Ereignisse waren ihm vorausgeeilt und er war ihnen nicht ganz folgen können.
Er hörte Gerede und Beschuldigungen in der Menge die Runde machen und verstand den Trubel nicht.
Was war denn passiert? Ist jemandem sein Spielbrett um die Ohren geflogen?
Er lauschte weiter.
Was er bis heute gehört hatte, waren nur Meinungen gewesen, nur Gedanken, ehrliche Gefühle, die jedem zustanden. Aber das, was er hier auf dem Platz hörte, war Propaganda, die hinterhältiger drohte als jedes Schwert..
Vor dem Hintergrund eines Attentats wurden Rechtfertigungen gefunden, um Andersdenkenden bösartigen Fanatismus zu unterstellen. Da passt ein Attentat, im Nachhinein inszeniert, natürlich prima ins Bild.
Er spuckte aus.
Die wahre Wahrheit... Wer kannte die schon, wenn es sie überhaupt gab... Wer hätte das Recht zu behaupten sie zu kennen oder anderen Menschen gar Lehren darüber zu erteilen... Hochmütige, aufstrebende Machtmenschen, er hatte sie zuhauf gesehen. Früher hatte er sie verachtet, inzwischen war er dafür zu alt und begnügte sich damit, sie auszulachen. Wie arm war ein Land, das solche Helden nötig hatte.
Die Starken finden ihr Licht in sich selbst. Nur die Schwachen brauchen einen Führer.
Er schüttelte den Kopf, lehnte sich an die Hauswand hinter ihm und sah auf die Menschenmenge.
Die Geschichte seines Landes würde ihm Recht geben. Dort herrschte seit vielen Jahren nur noch eine Meinung, denn alle anderen waren im Zuge einer „Neuen Zeit“ ausgerottet oder vertrieben worden.
Als junger Mann war er der neuen Religion gefolgt, weil er dachte, sie wäre anders als die anderen. Jetzt, hier, auf diesem Platz, stellte er fest, dass er sich geirrt hatte. Er lachte dumpf und schalt sich, ein Idealist gewesen zu sein.
Wenn selbst die Jungen nicht mehr erkannten, wann es Zeit war einzulenken und zu verstehen, dass Wahrheit immer nur eine Sichtweise war und niemals und von niemandem vereinnahmt werden darf, dann hatte er hier nichts mehr verloren.
Er sah zu der grölenden Masse, die zu vereinnahmt war, ihre eigenen Ideen zu entwickeln und sich lieber selbst zu Knechten einer fremden Idee machte.
Menschen sind dumm...
Er lachte. Dann lauschte er wieder den Rufen und tippte sich an die Wange. Auch er hatte sich hin und wieder kritisch geäußert. War denn das schlimm? War denn die eigene Meinung nur noch etwas wert, wenn sie konform mit der Meinung der Obrigkeit lief? Er hatte die Befürchtung, zu viele Ordensleute hier dachten nur noch in Extremen.
Er war ein friedliebender Mensch und hatte vor einiger Zeit beschlossen sich zurückzuziehen, um zu forschen und seiner Arbeit zu folgen. Doch es gab immer Unersättliche.
Er lehnte beide Seiten ab. Den alten und den aufstrebenden neuen Fanatismus. Denn es war ihm klar, dass der Neue Weg kein offener, sondern ein radikaler geworden war, der nur eine Meinung kannte, die Wahrheit der Konfessoren.
Der Mann lachte einige Augenblicke laut auf.
Er liebte Sedekiel und er wusste, dass er ihn auch liebte. In seinem Antlitz versank jede Last. Die Konfessoren liebte er nicht und Sedekiel würde es ihm mit einem Augenzwinkern verzeihen.
Der Mann blickte zum Himmel, der so weit war wie überall. Er wünschte sich, die Welt könne sich ein Stück dieser Freiheit heraustrennen. Seine Wahrheit kannte er gut genug. Er brauchte niemanden, der sie ihm vorkaute. Er lachte noch einmal, während er amüsiert den Kopf schüttelte.
"Was für ein Zirkus..."
Der Tag würde irgendwann dämmern. Möglicherweise würde es bald sehr dunkel werden. Er drehte sich um, um den Platz hinter sich zu lassen. Es war Zeit für ihn diese Manege zu verlassen.