Beiträge von Hilke

    Hilke hörte dem Redefluss Raos interessiert zu und versuchte trotz der Geschwindigkeit der Informationen, alles zu behalten. Es tat gut, einfach mal wieder entspannt mit jemandem über etwas anderes als Arbeit oder das Wetter zu sprechen, dem man keine vorsichtige Höflichkeit obgleich seiner Stellung entgegenbringen musste.

    Als Rao vor dem Grünen Graden kurz innehielt, bestätigte Hilke, dass sie angekommen waren und öffnete die Tür zum Gasthaus, nicht ohne zu versichern "Wenn wir etwas zu essen haben und einen warmen Platz zum sitzen, musst du mir alles von diesem Theaterstück erzählen!"

    Im Innern des Hauses war es warm vom Feuer des Kamins an einer Wand und obwohl es nicht zu laut war, um sich noch unterhalten zu können, klirrte und klapperte Geschirr von den Tischen, die besetzt waren mit lachenden, sich unterhaltenden Exilanten, die hier ihr Mittagessen aßen. Hilke führte Rao am Tresen entlang, hinter dem eine erstaunlich kleine kleine Frau mit knolliger Nase, dunklem, krausen Haar und Lachfältchen um die Augen stand und gerade Getränke zapfte. "Schönen Tag, Eli!" grüßte sie im Vorbeigehen."Rao, darf ich vorstellen: Karelia Köhler, ihr gehört der Grüne Graben und wenn sie mal frei hat, ist sie quasi unschlagbar im Würfeln." Die Frau blickte auf, grinste den beiden breit zu, wobei ihre Mundwinkel fast bis zu ihren Ohren wanderten und winkte ab "Ach, das sagt sie nur um zu rechtfertigen, dass sie immer verliert. Hilli, wen hast du denn da neues mitgebracht?"

    „Das ist Rao, sie ist zum ersten Mal in Exilia, wir kennen sie von den Sommerfeldzügen. Ihre Vorgesetzten haben gerade eine Audienz in der großen Halle und ich zeige ihr jetzt ein bisschen die Stradt.“ Über Hilkes Schulter hinweg winkte Rao der kleinen Wirtin überschwinglich zu. „Schön, dich kennen zu lernen, Karelia! Eli?“ "Ja, ja, ebenso, ebenso." Karelia nickte ihr kurz zu und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu.

    Bevor Hilke einen der freien Tische im hinteren Teil der Stube ansteuern konnte, fiel der Wirtin noch ein „Ach, Hilli! Deine eine Freundin, wie heißt sie noch gleich? - na, die mit den Pinseln im Haar, die sitzt da drüben und ließt wieder mal eins eurer Bücher.“

    „Oh, vielen Dank! Siehst du Rao, ich hab doch gesagt, hier treffen wir nette Leute. Hast du mal Shuja kennengelernt? Sie war auf dem vorletzten Feldzug mit dabei.“ Hilke war dem Fingerzeig Karelias gefolgt und hatte Shuja an einem Tisch in der Ecke erkannt, wo diese konzentriert über ein aufgeschlagenes Buch gebeugt saß und sich ab und an Notizen machte. Neben dem Buch lag ein scheinbar vergessenes Stück Brot auf einem Teller. Aus Shujas blondem Haarknoten ragte ein Pinsel und dort, wo ihr Ärmel beim Schreiben nach oben rutschte, waren einige blassblaue Farbtupfer auf ihrem Arm zu erkennen.

    Hilke war sich zunächst nicht sicher gewesen, ob sie erleichtert oder irritiert sein sollte, dass man Rao und sie vor verschlossener Tür stehen gelassen hatte, doch nach kurzem Nachdenken über Raos "Was glaubst du besprechen sie da drin?" überwog die Erleichterung, nicht Teil dieser sicherlich komplexen Gespräche sein zu müssen.


    Nach kurzer Ratlosigkeit fing sie sich und erinnerte sich, dass sie ihre Gastfreundlichkeit gegenüber Rao über ihre Gedanken ganz vergessen hatte. Ihr Angebot etwas essen zu gehen, schien glücklicherweise genau das Richtige zu sein.


    "Kommen die anderen auch?"


    Fast wäre Hilke ein "Welche anderen?" herausgerutscht, doch mit der Erkenntnis, dass Rao wohl tatsächlich Exilia nur mit den ihr bereits bekannten Exilanten verband, wurde ihr klar, dass die andere Magierin nicht nur ebenfalls von ihren Begleitern stehen gelassen worden war, sondern Rao gerade auch, anders als sie selbst, ganz allein in einer fremden Stadt war. Ihre Neugier auf die Gespräche hinter der Flügeltür wurde von plötzlichem Mitgefühl besiegt.


    "Die anderen haben sicher nicht alle Zeit, aber im Grünen Graben trifft man auch sonst nur nette Leute und da ist es nicht so überwältigen groß wie hier. Wir könnten Nachricht an Lyx im Observatorium schicken, bestimmt würde sie sich freuen, dich wiederzusehen!" Hilke griff Rao lächelnd beim Arm und zog sie sachte zum Ausgang der Großen Halle, wo sie eine der Wachen darüber informierte, wo sie zu finden sein würden, sollte man sie suchen.


    Hilke hatte sich vorgenommen über eine Mahlzeit im Gasthaus mehr über die mysteriösen Gäste zu erfahren, doch als sie die Treppen hinunter ins Freie traten konnte sie sich nicht verkneifen unterwegs bereits nachzuhaken. "Wo bist du seit dem Feldzug gewesen, Rao? Geht es dir gut? Hat deine Kraft sich wieder erholt?"

    Der Weg zur großen Halle verlief ohne Zwischenfälle, sah man davon ab, dass sich einige Exilanten neugierig umdrehten, um der ungewöhnlichen Gruppe hinterher zu sehen.

    Hilkes Sympathie gegenüber Muntegar hatte mit seinem Ringen um einen netten Kommentar der Stadt gegenüber einen kleinen Dämpfer erlitten und seine großen Schritte,mit denen sie zwar mithalten konnte, die jedoch ihrer Meinung nach wenn nicht von Respektlosigkeit, so wenigstens Unbedachtheit seinem älteren Kollegen gegenüber zeugten, verbesserten den Eindruck nicht weiter.

    Am Tor zur Großen Halle, deren Kuppel schon von weitem in den Straßen zu sehen gewesen war, machte sich die kleine Delegation daran, die Treppe zum Haupttor der großen Halle emporzusteigen. Hilke, die sich leicht außer Atem dem eiligen Schritt Muntegars angepasst hatte, drehte sich kurz besorgt in Richtung Rao und Magister Mahakala um, nutzte die Gelegenheit, um sich von Muntegars Arm zu lösen und die Treppen vor den Dreien hochzueilen. Sie bat eine der Torwachen darum, den greisen Magister auch von der anderen Seite beim Aufstieg der Treppe zu unterstützen und der junge Soldat lief die Treppe hinunter und griff beherzt zu, um den Mann zu ebenfalls zu stützen.

    Die zweite Torwache lies sie das Haupttor passieren und Hilke schritt dicht gefolgt von Muntegar in die große Halle.

    Sofort war zu spüren, dass die Temperatur innen sich stark von der schneidenden Kälte draußen unterschied. Hilke führte die Gäste um die große, wohlige Wärme abstrahlende Feuerstelle in der Mitte des Marmorbodens herum und machte vor dem hohen Tisch halt, an dem bereits die für Rao vertraute Gestalt des Protektors wartete.

    Sie räusperte sich kurz verlegen und begann dann mit den Worten, die sie sich den ganzen Weg lang zurechtgelegt hatte.


    „Ich darf vorstellen: Magister Muntegar und Mahakala, sowie Rao vom Orden der Chronisten“ Sie trat einen Schritt beiseite, um den Blick auf die Gäste freizugeben.

    Zeigt Ihnen Exilia, falls sie daran interessiert sind. Hilke dachte an die Anweisung des Protektors, warf einen Blick auf Magister Mahakala und entschied, dass eine ausgiebige Führung vielleicht nicht die klügste Idee war, zudem Magister Muntegar sehr entschlossen schien, schnell zum Punkt seines Besuches kommen zu wollen. Was auch immer der war. Bei seinen Worten an sie überkam sie eine vertraute Ruhe. Er schien eine dieser Personen zu sein, die so überzeugt von sich waren, dass man nicht umhin konnte, darauf zu vertrauen, dass sie wussten, was zu tun war.

    Als er ihr seinen Arm anbot, fror sie einen kurzen Moment ein und versuchte im Bruchteil einer Sekunde zu entscheiden, ob es in der Situation unangemessener wäre, am Arm eines fremden Magisters durch die Stadt zu spazieren oder ihn zurückzuweisen. Die Sympathie siegte und Hilke hakte sich leicht zögerlich bei ihm ein. „Der Protektor wird uns in der Großen Halle erwarten. Ihr seid schließlich aus einem Grund hier...“ Das Ende des letzten Satzes ließ sie offen, falls einer der drei bereits auf dem Weg etwas zum Grund des Besuches verlauten lassen wollte.

    An diesem Morgen war Hilke früher aufgestanden als gewöhnlich. Die drei Tage Vorbereitungszeit hatten ihr genügend Abstand gegeben, um gelassener auf die Begegnung zu blicken. Sie mochte keine gelernte Diplomatin sein, aber ihre Aufgabe bei diesem Empfang würde hoffentlich nicht anders sein, als im Lager auf den Feldzügen die gewohnte Gastfreundschaft zu zeigen. Nur das Ausmaß war größer. Und hier in der Stadt gab es, dachte sie, eigentlich auch bestimmt andere Personen, die für einen beeindruckenden Empfang besser geeignet wären. Nichtsdestotrotz würde sie den Anweisungen des Protektors Folge leisten.

    Sie hatte sich viel Zeit für eine Reihe morgendlicher Dehnübungen genommen - in ihrer eigenen Stube, denn den Tag auf der Promenade der Unsterblichen zu beginnen, quasi direkt vor den Fenstern der Gemächer des Protektors, war ihr ausgerechnet heute besonders unpassend erschienen – und hatte die Ruhe, die mit der darauf folgenden leichten körperlichen Erschöpfung einherging, genossen und sich dann für den Rest des Tages bereitgemacht.


    Zu Mittag stand sie also in ihren guten Kleidern allein in den Gemächern des Protektors, wo vor drei Tagen die ganze Sache begonnen hatte und blickte gedankenverloren aus dem Fenster aufs Meer hinaus, als sie eilige Schritte im Gang hörte. Auch die zwei Gardistinnen nahmen ihre Blicke vom Schreibtisch des Protektors, der erneut unter misstrauischer Beobachtung stand (Hilke fragte sich, womit sie rechneten. Dachten sie eine Delegation Magier würde einfach auf dem Tisch erscheinen?) und wandten sich der Tür zu. Nachdem die Botin die Nachricht von den drei Personen am Tor übermittelt hatte, und Hilke sich vergewissert hatte, das ebendiese Nachricht auch den Protektor erreichen würde, eilte sie aus der großen Halle und die Straßen Exilias herab in Richtung des Osttores.


    Kurz nachdem die drei Besucher das Tor erreicht hatten und von der Wache informiert worden waren, dass jemand für sie unterwegs war, konnten sie eine Gestalt die Hauptstraße heruntereilen sehen, die sich an den Menschen auf dem Platz vor Tor vorbeischlängelte und dann leicht außer Atem vor der Gruppe stehen blieb. Die junge Frau trug einen grünbraunen Mantel, mehrere Lagen Schals und Tücher um die Schultern und eine braune Mütze, auf die rund um den Rand liebevoll kleine Schildkröten gestickt worden waren. Von ihren Ohren baumelten ebenfalls winzige metallene Schildkröten.

    „Seid gegrüßt! Mein Name ist Hilke aus Exilia, mir wurde aufgetragen, Euch in Empfang zu nehmen. Verzeiht, wir waren nicht sicher, wie Ihr anreisen würdet. Ich hoffe, Ihr musstet nicht zu lang warten. Willkommen in Exilia.“

    Ihre Wangen leuchteten beinahe so rot wie Raos Roben, es war nicht zu sagen, ob der kühle Wind, die Anstrengung oder Verlegenheit der Grund war.

    Als sie Rao bemerkte, würde ihr höfliches Lächeln breiter und herzlicher. „Rao, es ist schön Eu- dich zu sehen! Wir wussten nicht, ob du auch kommen würdest.“

    Etwas Anspannung war von Hilke abgefallen, als zu Beginn der Verlesung schnell klar geworden war, dass sie nicht gleich eine persönliche Nachricht überhören würde.

    Der Orden der Chronisten. Sie hatte diesen Namen irgendwo im Bezug auf Rao einmal gehört, konnte ihn aber beim besten Willen nicht mehr zuordnen. Auch die Namen, mit denen unterzeichnet worden war, waren ihr fremd. Formulierungen wie „Aufwartung“ und „potentielle Möglichkeiten“ und „Angebot unterbreiten“ zeigten klar, dass es sich bei der Sache um geschäftliche Angelegenheiten des Protektors handelte. Als er sich mit dem Brief an seinen Tisch setzte, fragte sie sich kurz, ob er bemerkt hatte, dass sein Stuhl verrückt worden war und tadelte sich dann selbst gedanklich dafür, dass sie momentan alles auf sich selbst bezog. Das hier war kein Test, der Protektor hatte nur jemanden zur Kontrolle der Nachricht gebraucht.


    Umso unvorbereiteter traf sie seine Anweisung, die Delegation in Empfang zu nehmen. So unvorbereitet sogar, dass sie sich einen Moment vergaß und ungläubig ansetzte zu fragen „Aber wa-!“ sie biss sich auf die Lippe, unterbrach sich und nahm die Hände wieder auf den Rücken, mit denen sie schon auf halben Weg zum wilden gestikulieren gewesen war.

    Sie zwang sich zu einer winzigen Pause und nickte dann kurz mit dem Kopf. „Wenn Ihr mir erlaubt zu fragen: wer sind diese Leute? Gibt es etwas bestimmtes, auf das ich bei ihrem Empfang achten soll? Das ist Raos Orden, nicht wahr?“ Hilkes Haltung und ihr Gesichtsausdruck ließen deutlich erkennen, dass diese drei Fragen bei weitem nicht alle waren, die ihr auf der Zunge lagen, trotzdem sprach sie nicht weiter.


    Wenn sie genauer darüber nachdachte, ergab es durchaus Sinn, in der aktuellen Lage Vorsicht walten zu lassen und nicht persönlich anwesend zu sein. Genau so etwas war, weshalb sonst andere die wichtigen Entscheidungen trafen. Sie hatte ja nicht einmal darüber nachgedacht, dass nach der Sicherung des Briefes noch weitere Vorsicht angebracht sein könnte. Und wenn es wirklich Raos Orden war, würden es dann alles Magier sein?

    Hilke war beim Geräusch der näherkommenden Schritte noch ein Stück hinter Mahr zurückgetreten und gab sich Mühe, gerade zu stehen und eine professionelle Miene aufzusetzen.

    "Ich habe keine aktiven magischen Effekte feststellen können und es ist ebenfalls sicher, den Brief mit bloßen Händen zu berühren. Meine Vermutung ist, dass jemand euch einfach möglichst zügig Post zuschicken wollte und dies auf magischem Weg getan hat."

    Sie verkniff sich eine Bemerkung über ihre Annahme, dass Rao, die auf dem Weg nach Exilia wieder verschwunden war, dem Protektor nun vielleicht lieber Briefchen schrieb als sich dem schlechten Wetter der Stadt auszusetzen. Stattdessen wartete sie mit den anderen darauf, dass Tristan dem Befehl des Protektors nachkam.

    Hilke hielt triumphierend den Brief in der Hand. Dass Mahr sie daraufhin wie erwartet anfuhr, wurde gemildert von der festen Gewissheit, die Ungefährlichkeit des Papieres bewiesen zu haben. Eine zufriedene Ruhe war über Hilke gekommen. Die leise Stimme ihrer Gedanken, die darum wusste, dass sie genauso gut hätte falsch liegen können, war von dem positiven Ergebnis und dem Stolz darüber weit abgedrängt worden.


    Sie blickte in Mahrs Gesicht, in dem das Misstrauen und der Schock langsam von einer erleichterten Frustration abgelöst zu werden schienen.


    "Das soll heißen, das hier ist ein ganz normaler Brief, der mithilfe einer Form von Magie, mit der ich mich nicht genauer auskenne, hierher geschickt wurde."


    Kurz dachte sie über die Möglichkeit, den Brief - potentiell und sogar wahrscheinlich von Rao - selbst zu lesen (vorzulesen!) nach, schüttelte aber schnell den Kopf und drückte Mahr die Schriftrolle in die ausgestreckte Hand.


    "Ich denke, es ist sicher, den Protektor seine Post lesen zu lassen. Wenn Ihr das Siegel brechen wollt, um den Inhalt zu prüfen, halte ich Euch nicht auf, aber das ist nicht mehr meine Entscheidung."


    Sie blickte über Mahrs Schulter zu Tristan, der noch immer mit einigem Abstand zum Türrahmen auf dem Gang stand und das Geschehen beobachtet hatte. "Du kannst dem Protektor Bescheid geben, dass die Schriftrolle selbst sicher ist und er beruhigt zurückkommen kann um der Öffnung beizuwohnen oder ihn selbst zu öffnen."

    Bei Mahrs erstem Kommentar entwich Hilke trotz ihres Unbehagens kurz ein amüsiertes Kichern.

    Das leichte Klingeln in ihren Ohren, das sich mit jedem sich weiterdrehenden Gedanken verstärkt hatte, war mit Mahrs ernstem Zuspruch verstummt. Die Erinnerung, dass Mahr trotz ihrer Abneigung gegen Magie mit ihr hier im Raum stand und ihr vertraute, obwohl sie wohl die letzte war, die das nach dem Feldzug tun sollte, ließ einen fast vergessenen Trotz in Hilke aufsteigen, der durch ihren Körper rollte und wütend über ihre Unsicherheit hinweg wogte.

    Sie nickte Mahr kurz dankbar zu und drehte sich zielstrebig wieder dem Schreibtisch zu, stellte ihre Tasche ab, holte ihr Räucherwerk hervor und platzierte die Räucherschale auf einem steinernen Untersetzer auf dem Tisch. Ihr Blick wanderte kurz zum Stuhl des Protektors, dann zu Tristan hinter der Tür und wieder zurück, bevor ihre Miene sich entschlossen verhärtete und sie Platz nahm.

    Sie zündete die Kohle an, verteilte etwas Weihrauch darauf und zog den Kristall hervor, der ihr als Fokus diente.

    Mahr konnte sehen, wie der Rauch Hilli ins Gesicht stieg und sie tief einatmete, ehe sie sich die Hände vor die Augen legte, einige Bewegungen ausführte und dann langsam ihre Augen öffnete, die nun allerdings nur noch in die generelle Richtung des Briefes starrten, wie durch ihn hindurch.

    Einen langen Moment verweilte sie auf diese Art. Sie legte den Kopf schief, nach links, dann nach rechts und lies den Kristall an seinem Band langsam über dem Brief schwenken. Zuletzt nahm sie die Hände zurück vor die Augen, schien sich kurz zu schütteln, und ließ sie wieder sinken.

    Als sie zurück zu Mahr blickte waren ihre Augen klar und zielgerichtet.

    „An dem Brief ist zumindest absolut nichts Magisches.“ Hilkes Tonfall war vorsichtig neutral, ob sie erleichtert oder enttäuscht über diese Entdeckung war, war nicht zu sagen. „ Anscheinend wurde er irgendwie magisch hierher gebracht, aber sorgen müssen wir uns, was das angeht, schon mal nicht.“

    Dann stieß sie kurz ein ungeduldiges Schnauben aus, ihre Augen verengten sich, und sie fasste einen Entschluss.

    Ohne zu Zögern streckte sie die Hand aus, berührte den Brief, hob ihn an, schwenkte ihn vorsichtig durch die Luft und wartete einen Moment ab.


    „Vergiftet ist er auch nicht.

    Hilke ließ sich von der Wache des Protektors in dessen Arbeitszimmer führen und blieb einen Moment unsicher vor dem Schreibtisch stehen. Es ließ sich auch mit etwas Abstand leicht erkennen, um welchen Brief es sich handelte. Die einzelne versiegelte Schriftrolle lag beinahe allein, viele andere Papiere, die man sonst auf dem Schreibtisch eines Protektors erwarten könnte, schien er mit in die Bibliothek genommen zu haben.

    Sollte sie auf Mahr warten? Oder direkt den Brief inspizieren, damit sie ihr bei ihrer Ankunft direkt ein Ergebnis mitteilen können würde? Ihre Nervosität legte sich wie ein zu enges Mieder um ihre Brust und sie konzentrierte sich auf eine ruhige Atmung, während sie sich vorsichtig dem Brief näherte.

    Eilige Schritte an der Tür ließen sie kurz zusammenzucken und sich gleich darauf über sich selbst ärgern. Wenn sie sich von den Ereignissen des Feldzuges nicht so aus der Bahn hätte werfen lassen, würde sie jetzt nicht bei jedem Geräusch aufschrecken. Mahr betrat den Raum, gefolgt von Tristan, der betont ein Stück vor der Tür stehen blieb und seine Aufgabe wohl als getan betrachtete.

    „Mahr. Seid gegrüßt, ich bin froh, das Tristan euch so schnell finden konnte.“

    Sie begrüßte Mahr formeller als sie es sonst tun würde, doch in dieser Situation, im Zimmer des Protektors, mit einem klaren Auftrag, kam es ihr falsch vor, keine Förmlichkeiten zu wahren. Hilke war auf einmal sehr froh darum, dass sie zuhause noch die Kohlestreifen auf Händen und Armen entdeckt und zügig abgewaschen hatte.

    Lyx wüsste jetzt, wie sie einen Versuchsaufbau starten und den Brief genau untersuchen würde, rief Hilke sich ins Gedächtnis. Versuch, so zu wirken, als wüsstest du was du tust und es wird sich irgendwie alles auflösen lassen.

    „Ich wollte mit der Analyse sicherheitshalber auf eure Ankunft warten.“ Nun, da Mahr bereits hier war, konnte sie die Situation auch gleich so darstellen, als hätte sie nicht mit dem Gedanken gespielt, möglichst schnell Antworten zu finden, um Mahrs Unbehagen zu beruhigen.

    Um Fragen von Mahr zu ihren Plänen zu verhindern und sich selbst über Mahrs düsteren, alarmierten Blick hinwegzutäuschen, sprach sie direkt weiter.

    „Ich kann ihn natürlich nicht auf Gifte testen lassen, wie Lyx, aber da er ja magisch hier aufgetaucht ist, dachte ich, ich gucke mal, ob er mit einem magischen Effekt belegt ist. Bestimmt ist das alles zu viel Aufhebens und dieser Brief kommt einfach von Rao oder so, nur falls irgendetwas schiefgeht ist der Protektor in Sicherheit und dabei allein sein wäre vielleicht nicht die beste Idee für mich, also. Ja. Gut, euch hier zu haben...“ Der letzte Satz klang fragender, als sie es beabsichtigt hatte.

    Hilke hatte versucht die Ruhe, die die Arbeit in der Krankenstube nach der Hektik des Feldzuges bot, zu genießen, doch es wollte ihr nicht so recht gelingen, sich dem regelmäßigen Trott der Arbeit dort wieder anzupassen.

    Ihre Pausen füllte sie seit der Ankunft in Exilia mit weiterer Arbeit an ihrem magischen Fortschritt. Konzentriert saß sie auf einem Schemel in einer Ecke über ihre Notizbücher und eine von Lyx Abschriften alchemischer Symbole gebeugt, neben sich einen groben Kohlestift und ein bereits gut geschwärztes Tuch.

    Erst als eine der anderen Heilerinnen sie zum zweiten Mal ansprach, um sie auf den im Eingang wartenden Tristan aufmerksam zu machen, schreckte sie hoch und wischte hastig ihre rechte Handfläche mit dem Tuch ab. Sie schob ihre Notizen zusammen und in ihre Tasche und strich sich den Rock glatt, wobei sie unbemerkt einige graue Streifen hinterließ.

    Sie atmete einmal tief durch und versuchte, keinem der unzähligen Szenarien in ihrem Kopf Gehör zu schenken, die erklären könnten, weshalb der Protektor Tristan nach ihr schicken würde.

    Während Tristan erklärte, dass es um ein...Ding magischer Natur(?) ging - die Szenarien drängten sich fantasievoller und hartnäckiger auf - rieb Hilke nervös ihre von Kohle rauen Fingerspitzen zusammen und nickte gewissenhaft. "Ein guter Gedanke, Mahr dazuzuholen. Ich hole meine Komponenten und mache mich sofort auf den Weg zum Protektor!"

    Als sie die Tür des Grünen Grabens durchschritten, kamen ihnen die Geräusche fröhlichen Beisammenseins entgegen. Es war nicht besonders voll, aber an ein Paar der Tische saßen Zwerge und Menschen und aßen und tranken gemeinsam.

    Es duftete nach warmem Eintopf, frischem Brot und Met.

    Die Wirtin des Hauses, eine kleine Frau mittleren Alters sah hinter ihrem Tresen auf und lächelte beim Anblick neuen Besuches breit.
    Sie kam zu ihnen geeilt, bot ihnen einen Platz in der Nähe des knisternden Feuers an und nahm herzlich alle Bestellungen auf.

    Die Wache, die Mertha den dreien an die Seite gestellt hatte, passte sich Nairas Weg in Richtung des Gasthauses an.
    Ihr war aufgetragen worden, die Gäste Exilias bis zur großen Halle zu geleiten und selbst mit der Halle bereits in Sicht, würde sie die Gruppe begleiten, bis deren Angelegenheiten erledigt waren.


    Als Fuchs Naira ansprach wartete sie ab,wie sich die Gruppe der Fremden entscheiden würde.

    "Jawoll. Man sollte meinen, er wüsste langsam, was seine Aufgaben sind" knurrte Mertha und warf dem Jungen einen scharfen Blick zu.
    Sie schien sich bewusst zu werden, dass die Situation mehr und mehr ein unliebsames Bild auf Exilias Wache warf.


    "Na los, nu lauf aber und kündige die Gäste beim Protektor an."


    Nachdem der Junge erfahren hatte, was er wissen wollte, entschuldigte er sich noch einmal überschwänglich, warf Mertha einen schuldbewussten Blick zu und joggte davon.


    Als er zwischen den Häusern verschwunden war, bestellte Mertha eine der anderen Wachen herbei, die die Gruppe durch die Stadt zur großen Halle führen sollte.


    "Platz in der Gästeresidenz wird's wohl auch geben für euch. Sollte meinen, das die Leute selbst hinfinden, aber so sollen wir's eigentlich machen. Immer hilfsbereit un' freundlich und so." In solchen Situationen hasste Mertha den Dienst am Tor. Ihre Ohren waren leicht rosarot angelaufen.


    Während die drei die Straße heruntergeführt wurden, war noch leise zu hören, wie der Rest der Torwache herzlich lachte, wobei nicht die Besucher sondern Merthas ungeschickter Umgang mit ebendiesen der Quell der Belustigung für die scherzenden Soldaten zu sein schien.


    Die Wache führte Naira, Aenna und Fuchs nordwärts durch die Stadt. Je tiefer sie ins Zentrum der Stadt vordrangen, desto entspannter wurde die Stimmung zwischen den Steinhäusern. Nachdem die Gruppe den zweiten Mauerring Exilias passiert hatte, eröffnete sich ihnen geschäftiges Treiben auf dem Großen Markt. Hier schien man den Schrecken der ausgebrochenen Larks entweder gut zu verdrängen oder es lag tatsächlich nicht im Wesen der Exilanten, lang an Panik und trüber Stimmung festzuhalten. Von einem Gebäude am gegenüberliegenden Teil des Marktes wehte der Geruch nach frischem Brot und süßem Gebäck herüber und an der Front eines Hauses am westlichen Marktrand hing ein Schild, welches das Haus als das Gasthaus "Zum Grünen Graben" kennzeichnete.


    Von hier aus konnte man nun bereits sehr deutlich die große Halle hinter den Häusern aufragen sehen.

    Haiwesen? Unsere Larks?


    Auch wenn sie gern darüber sprach, dass sie den Reitvögeln eher trauen würde, wenn sie gerupft und glatt wie ein Odondo wären, bei dem Gedanken an auf den Meerestieren reitende Soldaten prustete Mertha nun tatsächlich los, versuchte das Lachen aber noch schnell mit einem Hustenanfall zu kaschieren und räusperte sich erneut.

    Gerade als sie sich an Naira wenden wollte, um der Frau verständlich zu machen, dass es nicht in ihrer Macht lag, jeden Passanten zum Protektor zu schicken, ertönte zwischen den Häusern ein aufgeregtes Rufen:


    „Herrschaften! Noch nicht weggehen, bitte!“


    Der Junge Bote, der zur Großen Halle gesandt worden war, hetzte mit nervösem Gesicht zurück auf die Gruppe zu. Er konnte nie und nimmer in der kurzen Zeit bis zur Halle und zurück gelaufen sein.


    „Verzeiht meine Damen und Herren, wenn Ihr mir noch Eure Namen und Euer Begehr beim Herren der Feste nennen könntet, damit ich Euch ankündigen kann wie es sich gehört!“


    Der peinlich berührte Ausdruck in seinen hektischen Augen verriet, dass es wohl nicht das erste Mal war, dass er vergessen hatte, sich dieses nicht ganz unwichtige Detail zu merken.

    "Wenn's jetzt noch 'nen Angriff gegeben hätte, hätt' ich wohl keinen Job mehr. Sieht man mal, was so Viecher anstellen können, wenn sie wild sind. Will man nich' auf der falschen Seite stehen, wenn einem die Kavallerie gegenübersteht, wie?"

    Der Wächterin schien langsam zu dämmern, dass sie nun doch ein längeres Gespräch führte als angedacht und sie räusperte sich kratzig.

    "ch vergess wieder meine Manieren. Soldatin Mertha Kohlberg. Falls euch jemand fragt, wisst Ihr jetzt wer euch reingelassen hat. Gibt 'n paar echt schöne Ecken in der Stadt. Also is' alles schön hier. Aber so zum angucken und staunen und so was, was neue Leute in der Stadt machen wollen. In der Innenstadt bauen sie immer an neuen schicken Häusern, da müsste sich Stadtmeisterin Eggerkes finden lassen und dann gibt's natürlich die Höhlen und die Promenade am Meer und so was, wenn Ihr das mögt. Is' aber echt hoch, also die Klippe."

    Sie wandte sich schon wieder dem Tor zu, bevor sie sich noch einmal umdrehte und hinzufügte
    "Und passt auf die Larks auf. Keine Ahnung, ob sie mittlerweile alle haben." Merthas Grinsen verriet nichts darüber, ob sie sich einen Scherz erlaubte oder die Vorstellung, einige Neuankömmlinge könnten einem wilden Lark begegnen, sie tatsächlich irgendwie amüsierte.


    Auf dem Weg durch zum Tor Exilias waren Naira und ihre Begleitung über die Brücke gekommen, welche die tiefe Schlucht, die der Stadt als schützender Graben diente, überwand.
    Händler mit voll bepackten Wagen und andere kleine Gruppierungen erreichten und verließen über diesen Weg die Stadt.


    Obwohl im Augenblick nur wenige Personen, hauptsächlich Menschen und ein paar Zwerge, auf den Straßen hinter dem Tor unterwegs waren, war eine geschäftige Unruhe zu spüren. Etwas schien die Stadt kürzlich in Aufregung versetzt zu haben. Sie konnten einen Mann und eine Frau sehen, die gerade die Fassade eines Hauses ausbesserten und einige Zwerge waren damit beschäftigt, zerborstene Lampen am Straßenrand zu ersetzen. Selbst ein paar Torwachen, die gerade ihre Schicht beendet zu haben schienen und lachend und feixend an der Stadtmauer lehnten, war anzusehen, dass sie aufmerksam, fast nervös ihre Umgebung im Blick behielten.

    Ein älterer, schon beinahe verflogener Geruch nach Panik und Blut hing so subtil im Stein der Häuser und Straßen, dass er unter dem Geruch des salzigen Meeres, des Knoblauchs und der kalten Nordluft höchstens für Fuchs zu erkennen war.


    Nach Aennas Anfrage bei einer der diensthabenden Torwachen, steckte die muskulöse Frau mit der Schildkröte auf der Rüstung zwei Finger in dem Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Einige Momente später erschien ein schlacksiger Junge, der ebenfalls die Farben und Zeichen Exilias trug, zwischen zwei Häusern und eilte etwas außer Atem zu der Frau.

    „Lauf zur Großen Halle und sag denen dort, dass Gäste angereist sind.“

    Zu der kleinen Gruppe gewandt sagte sie schroff „Wenn ihr tatsächlich geladene Gäste Exilias seid, wird man euch wohl 'ne Nachricht schicken.“


    Nachdem der Junge fortgeeilt war, musterte sie Naira genauer und fuhr dann etwas ruhiger fort „'ch glaub ich kenn das Gesicht...hm, kann nie sicher genug sein. 'tschuldigt unsere Vorsicht, die Zeiten sind nicht so friedlich wie sie mal war'n. Stadt erholt sich gerade erst von 'nem ordentlichen Schrecken. Wenn ihr 'ne Bleibe braucht, bis die da in der Halle von sich hören lassen, im Grünen Graben gibt's bestimmt 'n Platz und 'n gutes Brot.“